Abendland
und noch mehr gojische Ehrenjuden predigen dauernd, der Holocaust lasse sich nicht vergleichen. Als ob es einen Wettbewerb im Fach Grauen gäbe. Warum predigen sie das dauernd? Ich halte das für einen klassischen Fall von Übertragung. Die Ehrenjunden, weil sie einen Dämon in sich spüren, der eben doch vergleichen will, nämlich mit dem perversen Wunsch, daß herauskommen möge, der Holocaust war nicht so schlimm wie sein Ruf, denn der Ruf des einen relativiert sich am Ruf des anderen. Die Juden aber vergleichen – und als Jude finde ich das besonders traurig –, weil sie nicht mehr glauben, das Buch habe die Kraft, uns zu einigen. Niemand weiß mehr, wovon im Deuteronomium berichtet wird, aber jeder kennt die Zahl der in Auschwitz ermordeten Juden. Und wenn es früher hieß, den Juden, und zwar allein den Juden ist das Wort Gottes geschenkt worden, dann heißt es jetzt: Den Juden, und zwar allein den Juden ist der Holocaust geschenkt worden.«
»Dieser Gedanke ist völlig abartig. So denkt doch niemand. Denken Sie wirklich so?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich so denke«, antwortete Robert. »Sie erschrecken mich mit dieser Frage. Manchmal denke ich wirklich so, manchmal spreche ich den Gedanken nur aus, um mich zu vergewissern, daß ich nicht so denke. Kennen Sie so etwas?«
»Sie meinen, daß man etwas sagt, was man nicht denkt?« fragte David.
»Das sowieso. Nein, daß ich etwas ausspreche, nur um festzustellen, ob ich das auch wirklich denke.«
»Doch das kenne ich.«
»Ist ja auch kein Wunder. Man hat so viele Gedanken im Kopf, und sie sind ja nicht mit Farben markiert – rot die fremden, blau die eigenen. Wie soll man sie auseinanderhalten. Es ist so schwer. Man soll sie aussprechen.«
An dieser Stelle stand ich auf, murmelte etwas von: ich müsse dringend telefonieren, und ging vor die Tür.
3
Eine Weile blieb ich zwischen den glänzendschwarzen Glasschildern mit der goldenen Aufschrift Café Sperl stehen, betrachtete den Verkehr auf der Gumpendorferstraße und spürte, wie meine gute Laune allmählich zum Sinkflug ansetzte. Es ist behauptet worden, das Wesen der großstädtischen Geselligkeit bestehe darin, daß alles nur um des Gesprächs willen geschieht. Man tut, um hinterher darüber zu reden. Und man entscheidet sich für die eine Tat und nicht für die andere, weil sich aus der anderen weder Anekdote noch Sentenz schlagen läßt. Die Tat für sich ist gar nichts, erst wenn darüber geredet wird, gewinnt sie Sinn. – »Zwischen Was-ist? und Was-bedeutet? spannt sich eine kosmologische Leere, und man darf es nicht darauf ankommen lassen, daß sie sich so weit ausbreitet, bis am einen Ufer das andere nicht einmal mehr gedacht werden kann.« – Wenn es so etwas gibt wie im Gespräch handelnde Gestalten, dann ist Robert Lenobel der Herkules dieser Gattung (und Carl Jacob Candoris ist der Jupiter). Roberts Tat bestand darin, den jungen Leoparden ein Gatter zu errichten. Und er blickt in das Herz meines Sohnes, weil ich es nicht kann. Ein Möbelwagen versperrte die Fahrbahn. Die Autofahrer hinter ihm warteten geduldig. Ein wolkenloser Himmel spannte sich über die Stadt, zwei Kondensstreifen bildeten darin ein riesiges Kreuz. Vom Apollokino herunter wehte ein Wind, ein Frühsommerwind bereits, er wirbelte den Staub neben den Trottoirsteinen auf. Der Fahrer eines auberginefarbenen BMW, ein Mann mit einem roten, massigen Gesicht breitete eine Zeitung über das Lenkrad, schob sich die Brille in die Haare und zog eine andere Brille aus der Brusttasche. Neben ihm saß eine Frau, die im Rhythmus einer Musik, von der ich nur die Bässe hörte, ihren Nacken vor und zurück bewegte. Ohne sie anzusehen, reichte er ihr einen Teil der Zeitung hinüber. Vom Naschmarkt herauf durch die Girardigasse kam eine Gruppe Touristen, die Männer in kurzen Hosen, die Frauen das T-Shirt über dem Hosenbund. In ihren Blicken und Bewegungen war die Verlorenheit jener, die sich entschließen, die Stadt abseits der Trampelpfade zu erkunden, dann aber, nach wenigen Schritten in eine Seitenstraße hinein, den Beweis vor sich zu sehen glauben, daß die Touristenattraktionen zu Recht so genannt werden, weil alles andere nicht sehenswert ist. Der mutigste von ihnen schritt voran, seine Stimme hallte zwischen den unschön verputzten Fassaden, darüber erschrak er, verlangsamte den Schritt und gliederte sich wieder in die Gruppe ein. Noch ehe sie die Ahornbäume vor dem Café erreicht hatten, blieben sie stehen und berieten
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