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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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zerbrochenen in den Gully. Auf dem weiten Parkplatz hinter der Station war Flohmarkt, der Wind wehte eine Mischung aus Debrecziner, Curry und Patschuli herüber und Desinfektionsmittel von den Kleiderständen und Kellermief und Zigarrenrauch.
    David schlief noch. Ich steckte die beiden Zigaretten, die ich gerettet hatte, in seine Packung zurück, schnürte den Rucksack zu, stellte ihn in der Bibliothek neben den Fauteuil, wo er ihn hatte fallen lassen, und setzte mich wieder in die Küche.
    Was für ein Tagesbeginn!
    David!
    Der Winter meines Mißvergnügens ist durch seine Sonne zum strahlenden Sommer geworden. – And all the clouds that lour’d upon our house  /  In the deep bossom of the ocean buried. – Nein, der dritte Richard und sein brachialer Minderwertigkeitskomplex hatten in meinem Plot nichts verloren. Schon eher Papa Falstaff. Leb wohl, du Spätfrühling, du alter Jungfernsommer! Gibt’s einen fürsorglicheren Vater, der kein Vater ist, als diesen ärmsten Lumpenhund, der je mit Zähnen gekaut hat ? Zieht als Anführer einer liederlichen Bande durch die Nächte, umgibt sich mit einer für sein Alter viel zu würzigen Wolke aus Anarchie, nur um seinem Liebling Hal, Prinz von Wales, die Heiterkeit zu erhalten. By the Lord, I knew ye as well as he that made ye. Einem genetisch korrekten Vater kann so etwas ja auch gar nicht gelingen. Der sieht im Sohn nur die Zukunft und verteidigt sie eifersüchtig gegen die Gegenwart, als wäre diese Zukunft seine eigene. Der Ersatzvater hingegen weiß, daß der Junge ihm nicht bleiben wird, also wozu sich um seine Zukunft sorgen! Er sieht in ihm nicht, was er werden wird, sondern nur, was er ist. Ich bin in der bemerkens- und beneidenswerten Lage, Vater und Ersatzvater in einem zu sein … Wollen wir es nicht übertreiben – Sir John, der größte aller witzigen Geister, stirbt an gebrochenem Herzen, weil er als Ersatzvater verschmäht wird; weil er, als die Zukunft schon längst angebrochen ist, immer noch jener Gegenwart nachhängt, die inzwischen Vergangenheit heißt. Zudem ist es mehr als waghalsig, mit Falstaff oder irgendeinem anderen aus derselben Werkstatt in Vergleich treten zu wollen; Shakespeares Tinte überfärbt jedes wirkliche Blut. – Ob sich David fünf Tage auf diesen Ort festzaubern ließe, wenn ich ihm Shakespeares Stücke nacherzähle? Vier Tage? Drei Tage? Das Publikum liebt mich in der Rolle des Erzählers großer Stoffe. Mein Shakespearebuch (in der Manier von Charles Lamb) über Macbeth, Shylock, Lear, Timon, Richard III., Rosalinde, Falstaff und Hal, Othello und Jago, Antonius und Kleopatra, Hamlet und Claudius (den ich übrigens für den wahren Vater Hamlets halte, was – wenig beruhigend in meiner Situation – der Grund für Hamlets überdimensionierten Haß wäre) verkauft sich in den Wiener Buchhandlungen nicht auffallend schlechter als der Meister persönlich … – Mir fiel nicht ein einziges Thema ein, dem ich zutraute, daß es sich interessant genug aufbereiten ließe, um meinen Sohn bei mir zu halten. Zwei Tage. Wenigstens einen Tag. Wie hat Scheherazade das angestellt? Und wenn er mich nur besucht hat, weil er, bevor er aus dem Leben scheidet, ein Mal wenigstens seinen Vater sehen wollte? Eine solche Sentimentalität hätte sich Shakespeare nicht durchgehen lassen.
    Um halb zehn wachte David auf.
    Als wir das Café Sperl betraten, sah ich Robert Lenobel hinten in der letzten Loge sitzen, neben dem Klavier und dem großen Spiegel, wo wir immer sitzen, wenn wir gemeinsam frühstücken. David war begeistert von dem Café, er sei ein leidenschaftlicher Billardspieler, sagte er, aber erst seit ein paar Wochen. Ob ich mit ihm eine Partie spielen wolle. Ja, aber erst nach dem Frühstück. Er sah sich die Billardtische im anderen Flügel an. Ich setzte mich derweil zu Robert.
    »Das ist er«, sagte ich.
    »Sei so gut und laß mich machen«, sagte er. »Unterbrich mich nicht und verzieh nicht dein Gesicht!«
2
    Robert Lenobel ist verheiratet mit Hanna, die eine jüdische Buchhandlung in der Innenstadt betreibt. Sie haben zwei Kinder, Bub und Mädchen, Klara zwölf und Hanno fünfzehn. Robert ist aktives Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde und trägt am liebsten schwarze Anzüge und weiße Hemden ohne Krawatte. Als Student sei er Trotzkist gewesen, inzwischen ist er religiös. »Ich sehe aus wie Walter Benjamin«, pflegt er seine Bekehrung zu rechtfertigen, »also muß ich mich auch benehmen wie er. Unser Gott hat sich sicher

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