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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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etwas dabei gedacht, als er uns beiden das gleiche Kinn, die gleichen Pausbacken, den gleichen Schnauzbart und die gleiche Dioptrienzahl verpaßte.« Tatsächlich hat er keine Ruhe gegeben, bis er endlich bei einem Trödler auch das gleiche Brillengestell gefunden hat, wie es Walter Benjamin auf den meisten Fotos trägt. Ich finde übrigens nicht, daß er ihm ähnlich sieht. Sein Schädel ist zu knochig, sein Körper viel zu schlank und zu lang; Benjamins Hände, soweit man das auf den Fotos erkennen kann, waren klein und mädchenhaft, Robert hat ziemlich ungefügte Pratzen. Neben seiner Tätigkeit als Psychiater – seine Praxis ist in der Girardigasse, gleich ums Eck beim Sperl – hält er einmal in der Woche an der Hochschule für Angewandte Kunst eine Vorlesung – über Freud, Jung, Adler, Lacan und Foucault und deren Einfluß auf die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Zeitlang hatte er vor Philosophiestudenten doziert, es aber bald gelassen, weil er sich, so hatte er es ausgedrückt, »von denen eingekreist fühlte wie von einem Rudel fehlgeleiteter Sozialarbeiter«. Die Philosophie, predigt er, sei der Religionsersatz der Kleinmütigen, das Opium für die Gottlosen; » mit einem moralischen Auftrag ist sie dumm, ohne einen solchen ist sie sinnlos«; gute Philosophen seien Dichter, mit Wahrheit habe ihr Aufwand nicht das geringste zu tun; der ewige Schmarren aus Wer-bin-ich?, Woher-komme-ich? und Wohin-gehe-ich? werde uns immer nur von den Zweit-, Dritt- und Viertrangigen aufgetischt, daran seien diese nachgerade zu erkennen. Ich gebe neidlos zu, Herr Dr. Lenobel ist ein Meister der psychologischen Rhetorik, halbwegs angesiedelt zwischen Augustinus und Colombo, Freud und Hercule Poirot. In unseren Unterhaltungen – um so mehr, wenn andere dabei sind –, bemühen wir uns, wie in einer hypergeistreichen Sit-Com zu wortfechten. Immer wieder gelingt es ihm dabei, mich zu Zynismen zu verführen, vor denen es mir selbst schaudert. Am Ende bin jedesmal ich es, der ihn übertrumpft, und er ist es, der zur Mäßigung rät. Ich verabschiede mich von ihm, und bereits draußen auf der Straße habe ich das Gefühl, ein schäbiger Kerl zu sein. Ich fühle mich von ihm durchschaut. Was mich erstaunlicherweise nicht beschämt. Denn nicht mich durchschaut er, beschwichtige ich mich selbst, sondern ein Double von mir, ein potentielles Ich, das am Ende auf mich warten würde, wenn ich weiter den Weg des schäbigen Kerls ginge. Einmal sprach ich mit ihm darüber – »es gelingt dir, die schlechtesten Seiten in mir zu beleuchten, aber so erkenne ich sie wenigstens«; er faltete die Hände und bat mich, dies ja niemandem zu erzählen, es könnte seinen Ruf beschädigen; und er meinte das nicht ironisch. Außerdem lehne er Selbstverachtung als die verrückteste aller Attitüden ab. »Man muß nicht unbedingt zuerst deine schlechten Seiten erfahren, um zu wissen, wer du bist.« Er übrigens versteht es meisterlich, seine Fehler in Vorzüge umzudeuten. Als ihn Hanna einmal eine »technische Wildsau« nannte, weil er weder mit der Waschmaschine und dem Mikrowellenherd noch mit dem Videorecorder, ja nicht einmal mit seinem eigenen Handy umgehen könne, antwortete er ihr: »In der Anbetung der Technik versinnbildlicht sich für mich die schlimmste Rückständigkeit des menschlichen Geistes.« – Diesen Satz habe ich mir notiert. Hinter seiner Fassade aus brillantklarem Eis vermute ich Warmherzigkeit und Milde, ja sogar Nachgiebigkeit. Sein Sohn und seine Tochter – beide haben das eigentümlich hohe, etwas konkave Gesicht ihrer Mutter – gehen freundschaftlich und gelassen mit ihm um. Wenn er mit ihnen spricht, ist nichts von dem Pointenzwang zu spüren, dessentwegen sich unsere Gespräche, jedenfalls wenn sie Spielfilmlänge überschreiten, für mich bisweilen recht anstrengend gestalten. Ich schließe daraus: Der Vater steht den Kindern sehr nahe, eben alltäglich nahe. Robert ist ein treuer Ehemann, andere Frauen interessieren ihn nicht. Ich habe versucht, ein Doppelleben in seinen Schatten zu malen, aber meine Vorstellungskraft hat versagt, es gibt nichts, woran sie sich festhalten könnte. Er kennt Massen von Witzen, vornehmlich jüdische Witze, nie allerdings habe ich einen Witz sexuellen Inhalts von ihm gehört. Kann sein, ein Psychoanalytiker hat solche Ventile nicht nötig. Wann immer es mir schlechtgegangen war, hatte er Zeit für mich gehabt, und wenn ich mich mit ihm unterhielt, egal worüber – vorausgesetzt,

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