Abendland
sie, sie wünsche, ihm etwas vorzutanzen. Die Mutter legte eine Musik auf, und Natalie drehte und warf sich im Rollstuhl vor und zurück und hin und her. Nach einer Weile fand sie den Rhythmus, und ihr Körper war voll Anmut, trotz der schnellenden, zuckenden Bewegungen. Er verstand, warum weder Natalie noch ihre Mutter es wollten, daß sie im Heim vor den anderen tanzte. Die Bewegungen hatten nämlich auch etwas Anbietendes, Geiles, Lüsternes an sich, obwohl sie bestimmt nicht so gemeint waren. Allein die Tatsache, daß eine behinderte Frau, die schön war, tanzte, ließ einen etwas Schäbiges denken. Natalie war sein Liebling. Jeden Tag unterrichtete er sie. Hauptfach war Bliss. Bliss ist eine Universalsprache, ihr Erfinder war ein gewisser Charles Bliss, der hat sich, beeinflußt von den chinesischen Schriftzeichen, Symbole ausgedacht, mit deren Hilfe man alles, was man so üblicherweise redet, ausdrücken kann, nämlich einfach, indem man mit dem Finger darauf deutet. Das Sensationelle daran ist, daß auf diese Weise jeder Mensch mit jedem anderen Menschen kommunizieren kann, egal ob er Chinesisch, Portugiesisch, Deutsch oder Suaheli spricht. In der Allgemeinheit hat sich diese Erfindung leider nicht durchgesetzt, im Umgang mit sprachgestörten Menschen aber lassen sich erstaunliche Erfolge damit erzielen. Nachdem David ein halbes Jahr mit Natalie gearbeitet hatte, war sie in der Lage, mit Hilfe eines auf Bliss aufbauenden Programms – Apple Bliss – am Computer zu »schreiben«. Das Problem war: Natalie konnte mit den Händen nicht den Bildschirm berühren, um auf die Symbole zu zeigen und damit das Programm auszulösen. Wenn sie ihre Hand vor sich sah, zuckte die Hand aus und ließ sich nicht führen. Um die Hand halbwegs ruhig zu halten, mußte sie den Kopf wegdrehen. Wenn sie aber den Kopf wegdrehte, sah sie nicht, auf welche Taste sie drücken wollte. David stellte einen Spiegel auf den Tisch, so daß sie ihre Hand indirekt sah, und, wie ein Wunder, sie gehorchte ihr. Das erste, was sie schrieb, war ein Brief an David. Sie schrieb, sie liebe ihn wie einen kleinen Bruder. Als er seinen Ersatzdienst abgedient hatte, arbeitete er noch eine Weile unentgeltlich in dem Heim weiter, meldete sich aber an der Universität Frankfurt für die neue Studienrichtung Bioinformatik an, für die draußen in Niederursel im FIZ (Frankfurter Innovationszentrum Biotechnologie) ein Institut eingerichtet werden soll. Er stellt sich vor, daß man in dieser Studienrichtung auch über Kommunikationsformen jenseits von konventioneller Schrift und Sprache nachdenke. Jedenfalls wird er, wenn es zu einem Aufnahmegespräch komme, sagen, er wisse bereits, worüber er seine Diplomarbeit schreiben wolle, nämlich über Bliss.
Als wir uns zum Schlafengehen voneinander verabschiedeten, sagte David: »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gern über die Feiertage noch hierbleiben.«
»Hast du eine Bliss-Tafel bei dir?« fragte ich, wissend, daß er keine bei sich hatte.
»Nein«, sagte er, »aber ich kann dir die wichtigsten Symbole auf ein Blatt aufzeichnen.«
»Das würde mich sehr interessieren«, sagte ich. Und das stimmte auch.
Dagmar arbeitet auf Honorarbasis in der Abteilung für Stadtentwicklung und Flächennutzung des Stadtplanungsamtes der Stadt Frankfurt. Der Job wird nicht übermäßig gut bezahlt, dafür ist er interessant, und man kann in ein paar Jahren bei einem Spaziergang durch die Stadt sehen, was man zustande gebracht hat. Sie hat auch an dem inzwischen in der ganzen Bundesrepublik bekannten Baulückenatlas mitgearbeitet. Der war erstellt worden nicht zuletzt auf Wunsch und Druck der Industrie- und Handelskammer, und zwar zu dem Zweck, jeden freien Quadratmeter in der Stadt wirtschaftlichen Interessen preiszugeben. Aber eine seriöse Stadtplanung ist ja keine Lobbyistenspielwiese. Und die Stadt gehört allen. Auf der anderen Seite stehen die militanten Naturschützer, die aus jedem freien Quadratmeter ein Reservat rückbauen wollen, das am besten nicht betreten werden sollte, weil dort vielleicht irgendwelche Ruderalpflanzen gedeihen oder ein Mauerseglerpaar sein Nest baut. Dagmar hat durchgesetzt, daß wenigstens eine Baulücke unangetastet blieb, und zwar genau jene, die sowohl von den Ökos als auch von den Wirtschaftsleuten als besonders häßlich bezeichnet wurde. Dort stehen gerade noch die Kellerschächte zweier ehemaliger Bürgerhäuser. Spekulanten hatten die beiden Grundstücke gekauft und die Häuser
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