Abendland
Knastbruder) und beobachtete die Stelzenmänner, die in Zeitlupe zur Kärntnerstraße wanderten und sich dort breitbeinig zu einer Barriere aufstellten und einander an den Händen hielten, so daß sich die Leute unter ihren langen Beinen durchducken mußten. Ohne Interesse schaute ihnen David zu, zog an seiner Zigarette, ein Ausdruck im Gesicht, als wäre das beileibe nicht das erste Mal, daß er sich abseits begebe, damit der Vater ungestört mit seinem Pantscherl parlieren kann.
»Warum hat er so eine Stimme?« fragte Evelyn.
»Was für eine Stimme hat er denn?«
»Ein rauher Bariton. Sehr sexy.«
Sie nahm mein Gesicht zwischen ihre großen warmen, trockenen Hände und küßte mich fest auf den Mund. »Du siehst gut aus, hast abgenommen, das steht dir gut, und warst an der Sonne, hast eine Farbe. Gefall ich dir noch?«
»Natürlich.«
»Warum ist er in Wien?«
»Er wollte seinen Vater kennenlernen.«
»Ja. Aber warum?«
»Das ist ein uraltes Thema, das wollen alle.«
»Ich zum Beispiel wollte es nicht.« Und schon begann sie, sich zu überhaspeln. Erst lehnte sie ihren Kopf gegen meinen und flüsterte, aber nach wenigen Worten gab sie das Flüstern auf, dafür erhöhte sich die Geschwindigkeit ihrer Rede, und am Ende war sie schneller als ein Capriccio von Paganini. »Ich würde gern eine Ausstellung über Wien während des Kalten Krieges organisieren. Über die Spione. Die sind sich zu dieser Zeit in der Kärntnerstraße g-g-gegenseitig auf die Füße getreten, so viele waren es. In Wahrheit war nämlich hier, in Wien, der Fokus der Weltpolitik, nicht in Washington oder Moskau oder London oder Genf oder Berlin. Und Jimmy ging zum Regenbogen . Ich habe mir die Nummer vom Simmel besorgt. Bis jetzt habe ich noch nicht bei ihm angerufen. Ich wollte erst mit dir darüber sprechen. Er wäre ein sicherer Programmpunkt. Ich denke, das könnte eine Ausstellung werden, die sehr stark von Veranstaltungen begleitet wird. Man könnte auch sagen, es wird eine Veranstaltungsreihe, zu der parallel eine Ausstellung zu sehen ist. Was hältst du davon? Den Simmelabend müßte man irgendwie zu einer großen Würdigung ausbauen. Daß die Stadt den Mann irgendwie groß würdigt. Wäre eh fällig. Im Museum könnte der Roman von Alpha bis Omega in einer Marathonlesung mit mehreren Schauspielern vorgelesen werden. Außerdem eine Gesprächsrunde, zum Beispiel auf der Bühne des Burgtheaters: ein alter ehemaliger amerikanischer Spion, ein alter ehemaliger sowjetischer Spion, ein alter ehemaliger britischer Spion, natürlich ein deutscher, über Lautsprecher hört man die Übersetzungen. Super wäre es, wenn der Peter Huemer die Gesprächsleitung übernehmen würde. Den könntest du fragen.«
»Wie geht’s Pnini?« fragte ich nach einer Pause, die sie nötig hatte, um sich von ihrem Gewitter zu erholen.
»Sie ist schwanger«, flüsterte sie. »Sie klettert über den Balkon auf die Dächer. So ist es passiert, denke ich. Wenn du ein kleines Kätzchen willst, melde dich bei mir an. Es würde dich weniger hart sein lassen.«
Sie drehte sich mit einem Ruck von mir weg und ging zu David, hockte sich neben ihn, legte ihren Arm um seine Hüfte und sprach nahe an seinem Ohr auf ihn ein. Er strahlte sie an und nickte und schnippte den Tschick in meine Richtung, ohne in meine Richtung zu sehen.
Sie rief: »Er ist einverstanden, daß ihr heute abend zu mir zum Essen kommt.«
Sie ging davon, schritt dahin, die Urwaldkönigin, die es in die Großstadt verschlagen hatte.
»Das ist schon okay«, sagte David. »Hat ja niemand erwartet, daß du zölibatär lebst.« Aber ich meinte, er meine damit, er habe es sehr wohl erwartet, und das erfüllte mich mit einer solchen Freude, daß ich ihn umarmte und es mir in der Kehle kratzte, als ich sagte: »Ich bin sehr glücklich, daß du mich besucht hast, und sehr glücklich, daß du noch ein bißchen bleibst.«
Er klopfte meinen Rücken, wie man es bei einem Hustenanfall tut, und schob mich sanft von sich. »Ich habe gehört, daß Leute, die eine Operation hinter sich haben wie du eine, in der ersten Zeit danach leicht heulen.« Dabei sah er schräg vor sich nieder, hob eine Braue und verzog den Mund, was ebenso verlegen wie spöttisch aussah; auf jeden Fall aber sohn-echt. In einer Woge von Liebe ging mein Mißtrauen unter – woher weiß er von meiner Operation? Ich habe ihm davon nichts erzählt! –, und ich glaubte, mir vorstellen zu können, wie es gewesen wäre, wenn ich ihn in Windeln
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