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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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erste Berührung zwischen einem Mann und einer Frau und noch Teil des großen Tests, ob solches Vorgehen der Erhaltung der Art diene oder eher nicht. Wir umarmten uns und legten uns auf den Teppich, weil das Kanapee zuwenig Platz bot, um glaubhaft so zu tun, als ob wir uns noch nicht entschieden hätten, was weiter mit uns geschehen sollte. Die Beine ineinandergelegt, wärmten wir uns, und Dagmar sagte, sie würde gern Musik hören, und ich ging in mein Arbeitszimmer und legte eine der Platten auf, und wir hörten Maria Callas und Ebe Stignani erst abwechselnd, in der letzten Strophe im Duett Mira, o Norma singen; und als die Nummer fertig war, stand ich auf, ging wieder in mein Arbeitszimmer und hob die Nadel an den Anfang zurück, und das wiederholte sich, ich weiß nicht, wie oft, so daß diese – wie mir einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte – geborgte Glückseligkeit immer nur vier Minuten dauerte; aber das war gut so, denn die Kreisform der Wiederholung ist das einzig mögliche Gleichnis, das wir uns von der Ewigkeit machen können; und im Gegensatz zu heute, wo ich die Repeat-Taste am CD-Player drücke und damit diese Arie zu einem durchgehenden abendfüllenden Stück verlängern kann (wenn ich dabei Gift nähme, zu einer Monsterproduktion wie den Ring des Nibelungen , angenommen man würde mich erst – oder bereits – nach fünfzehn Stunden finden), wurde uns diese geborgte Glückseligkeit in Paketen geliefert, die ich für uns eins nach dem anderen abholte und uns ins Herz stapelte. Da lagen wir und blickten zur Decke hinauf, und Dagmar sagte, sie sei hundert Prozent sicher, daß Bellini, natürlich ohne es zu wissen, diese Musik für diesen Augenblick komponiert und daß die Callas, natürlich ebenfalls ohne es zu wissen, so schön nur gesungen habe, damit wir beide in diesem Augenblick hier liegen und zuhören. Und ich wäre gern einer gewesen, der sich wenigstens einmal – wenigstens einmal! – von der Liebe überrumpeln läßt, ohne sich sofort hinterher zu sagen: Sieh an, jetzt bin ich von der Liebe überrumpelt worden. – If music be the food of love, play on! – Aber ich empfand ja nicht anders als sie, nur daß die Metaphern und Zitate, die mir durch den Kopf tanzten, mit der reinen und ganz und gar wirklichen Wölbung von Dagmars Stirn nicht konkurrieren konnten (die aus heutiger Sicht, also durchaus nüchtern betrachtet, das Schönste war, was mir der liebe Gott je gezeigt hatte); und so breitete sich das Weltall vor mir aus und füllte sich aus der Quelle eines Soprans und eines Mezzosoprans mit Sinn und Bedeutung wie Frankensteins Monster mit dem Blut von durch und durch wirklichen Menschen, und ich wäre gern ein anderer gewesen, und doch war ich nie vorher und nie wieder nachher lieber ich selbst. An diesem Abend beschlossen wir zu heiraten – entweder zu heiraten oder uns zu trennen (eine Alternative, die, wie mir Robert versicherte, am Beginn so vieler mißglückter Ehen stehe), also zu heiraten; und beschlossen auch gleich, ein Kind zu haben, und Dagmar setzte die Pille ab, und wir vögelten von nun an dreimal am Tag und mit einem Ernst, als wäre es die gute Tat.
    Meine morgendliche (postoperative) Euphorie meldete sich wieder in kleinen dahinhüpfenden Momenten von Überschwenglichkeit, in denen sich die Härchen an meinen Armen aufstellten. In Davids Augen, meinte ich, funkle ein Licht kindlicher Frühreife, was mich dazu animierte, ihm imponieren zu wollen – wie ich auch seiner Mutter immer imponieren wollte. Ich befand mich in Konkurrenz zu Herrn Dr. Lenobel. Was einem an einem Fremden gefällt, stößt einen am eigenen Vater ab? Kann ja sein. Und um nicht häßlich zu erscheinen, entschloß ich, mich gar nicht zu zeigen. Damit ihn eine gewisse Rätselhaftigkeit an seinem Vater fasziniere. Den Vater jedenfalls faszinierte eine gewisse Rätselhaftigkeit an seinem Sohn. Aber man muß ein Schweiger sein, um schweigen zu können. Meistens stellt sich Schweigen einfach als Nichts-Reden dar, und es benötigt sündteuren Kunstaufwand, um einen Clint Eastwood zu kreieren, der still ist, aber dennoch irgendwie nicht dumm wirkt. Solcherart blankes Schweigen mag in der freien Natur des Wilden Westens Effekt zeigen, in der Großstadt wirkt es ohne die Stütze vielsagender mimischer und gestischer Ironie bloß bäurisch. Ein Mangel an Nuance, Zweifel und Witz würde mich als primitiv erscheinen lassen, und das sollte für meinen Sohn kein Ansporn sein, sich mir zu öffnen. Allzu

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