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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Sie wußte, daß ich es war. Ihr Ton war gleichgültig geschäftsmäßig. Ich ließ mich nicht bluffen. Es gibt niemanden, der sie besser kennt als ich. Nachdem sie ausführlich erzählt hatte, fragte sie: »Hast du manchmal daran gedacht, zu mir zurückzukommen?«
    Ich antwortete mit der Wahrheit: »Nachdem wir gestern nacht miteinander telefoniert hatten, habe ich daran gedacht. Seither denke ich daran.«
    »Vorher nie?«
    »Nein.«
    »Verdankst du mir etwas, Sebastian?«
    »Wie meinst du das?«
    »Vergiß es!«
    »Sag mir, wie du es meinst!«
    »Frag’ mich nicht, wie ich es meine, sag’ einfach ja oder sag’ nein.«
    »Sehr viel verdanke ich dir.«
    »Ich frag’ lieber nicht, was.«
    Wir erzählten einer dem anderen, was der andere ohnehin wußte, weil wir es miteinander erlebt hatten. Irgendwann sagte ich: »Erinnerst du dich noch an die verrückte Schwäbin?«
    »Welche verrückte Schwäbin?« fragte sie.
    Und obwohl ich sehr deutlich den warnenden Unterton hörte, sprach ich weiter: »Die KBWlerin mit dem Babygesichtchen, mit der du in der Bockenheimer Landstraße zusammengewohnt hast.«
    »Die Inge? Wieso sagst du, die war verrückt?«
    »Du hast noch Kontakt zu dieser bitteren Schwäbin?«
    »Sie ist meine Freundin.«
    »Sie ist deine Freundin? Bist du verrückt! Und wo ist sie zur Zeit dabei? Bei den Satanisten? Beim Opus Dei? Bei den Tierschützern, die Hühnerfarmen mit Auschwitz und Bergen-Belsen vergleichen?«
    Dagmar legte auf. Und ich dachte: Ich habe alles verdorben. Und das kam mir sehr vertraut vor, denn immer, wenn wir uns gestritten hatten, hatte ich mich hinterher ähnlich gefühlt.
6
    Dienstag, 17. April.
    Später Vormittag. – Im selben Moment, als David und ich aus diesem schicken Kleidergeschäft auf die Annagasse traten, wo sich gerade eine Heerschar auf Stelzen, die für ein Hautpflegesystem warb, zu einer orange-grünen Phalanx formierte – je ein Buchstabe des Produktnamens auf je einem Wams –, sah ich Evelyn oben auf der Kärntnerstraße. Ich erkannte sie an ihrem Schritt und an der Art, wie sie die Arme eng am Körper hielt. Das wirkte sehr einsam. Sie zeigte ihre Zähne, ließ den Schlüsselbund aus ihrer Hand springen und fing ihn in raubtierhafter Geschwindigkeit auf, grüßte, indem sie die Fäuste gegen mich ballte, und mit geballten Fäusten kam sie auf uns zu.
    »Kann es sein, daß du David bist?«
    Ich hatte ihr von David erzählt, nicht allzu ausführlich freilich, und es war auch schon lange her; daß er mein Sohn ist, viel mehr hatte ich über ihn damals ja auch nicht gewußt. Er stellte die Papiertaschen mit den Boxershorts und T-Shirts, den Schuhen, den Jeans und dem halben Dutzend Socken, wozu ich ihn überredet hatte, neben sich auf das Pflaster und drückte ihre Hand. »Stimmt auffallend genau«, sagte er.
    Ich sah ihr an, daß sie von seiner Stimme beeindruckt war, und wohl auch, weil sein mädchenhaftes Gesicht und sein honigfarbenes lockiges Haar dazu ein so perplexes Kontra bildeten, daß es ihr schwerfallen mußte, überhaupt ein erstes Bild von ihm zu entwerfen. »Hast du eine Ahnung, wer ich sein könnte?«
    »Ich bin erst den dritten Tag in Wien.«
    »Sagt dir der Name Evelyn etwas?«
    »Ich möchte nach zweieinhalb Tagen nicht unbedingt etwas falsch machen«, antwortete er.
    »Das ist eine ziemlich gute Antwort«, imitierte sie seine Stimmlage und unterlegte ihr die Karikatur eines Quizmasters, was albern klang und mich rührte, weil ich daraus schloß, daß ihr Herz hoch schlug. Nun wandte sie sich zu mir. »Kommentier’s bitte nicht.« Und wieder zu David: »Und wie lange bleibst du?«
    »In zwei Stunden oder so fahre ich wieder.«
    »Ein kurzer Besuch.« Und zu mir: »Wie geht’s dir?«
    »Fast alles ist gut«, sagte ich.
    »Was heißt fast ?«
    »Daß nie alles gut ist.«
    »Warum hast du nicht ein Mal wenigstens angerufen?«
    »Mein Sohn hat mich besucht.«
    »Aber doch erst vor drei Tagen , wie ich gerade erfahren habe! Ich habe seit zwei Monaten nichts von dir gehört!« Zu David: »Er stellt sich nämlich nicht die Frage, wie es mir dabei geht, wenn ich dauernd nachstudieren muß, wie es ihm geht. Er spinnt, weißt du das? Absolut kein comprendo bei ihm.« Zu mir: »Aber ich denke, ich verstehe dich , ich verstehe dich, ja, ich denke, ich verstehe dich .«
    David hob seine Taschen auf und ging ein paar Schritte weiter, hockte sich auf einen Fahrradständer, zündete sich eine Zigarette an (Streichholz in der Höhlung der Hand wie ein

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