Abendland
abgerissen und waren pleite gegangen. In den Kellern hatte sich ein Tümpel gebildet, die Mauerstümpfe sind von Efeu und Knöterich überwuchert, etliche der alten Parkbäume stehen noch, unter anderem ein Mammutbaum und eine mächtige Blutbuche, ein Hain aus zarten Birken wächst auf der einen Seite, auf der anderen hat sich Schilf breitgemacht. Es ist ein Stück Großstadtdschungel und Dagmars Lieblingsplatz, gelegen am Rand des Westends, sie sagt »mein Platz« dazu, außer den Bonzen und den Grünen finden offenbar auch alle anderen Frankfurter diesen Platz häßlich, auf jeden Fall ist nie jemand dort, nicht einmal Punks oder Junkies kommen hin. »Ich habe«, sagt sie, »etwas getan, indem ich durchgesetzt habe, daß nichts getan wird.« Zur Zeit hat sie eine besonders schöne Arbeit: Die Bebauung des Rebstockparks nicht weit vom Messegelände ist in Planung, und weil man ihre Art schätzt, hat man sie in die Vorbereitung dieses Projekts einbezogen. Es ist die spannendste Aufgabe, an der sie in ihrem Leben mitgewirkt hat. Der Architektenstar Peter Eisenman aus New York hat die Pläne entworfen, eine unglaublich schöne Lösung hat er gefunden, er hat mathematische und philosophische Überlegungen mit ökologischen und wirtschaftlichen verwoben und das Ganze unter ein soziales Diktat gestellt. Bei dieser Arbeit verdient sie auch besser, es ist ein Vorteil, daß sie nicht angestellt ist. Aber auch wenn sie nichts dafür bekäme, würde sie es tun. Sie überlegt sich, ob sie in ihrem Alter noch ein Architekturstudium beginnen soll, wahrscheinlich aber tut sie es nicht.
Bis zwei Jahre nach der Scheidung hat sie noch mit David in der Danneckerstraße in Sachsenhausen gewohnt, sie hat nichts in der Wohnung verändert, aber nicht wegen Sentimentalität, sondern wegen Faulheit oder Gewohnheit. Dann sind sie umgezogen. Sie hatten unwahrscheinliches Glück, in der Friedrichstraße, überhaupt nicht weit vom Grüneburgplatz, war eine große Wohnung mit Flügeltüren, vier Zimmern und einem protzigen Frühstücksbalkon angeboten; die Vermieterin hatte sich ausdrücklich eine alleinstehende Frau mit einem Kind gewünscht, für so eine hatte sie die Miete halbiert, ein Ehepaar oder ein Single hätte fast das Doppelte berappen müssen. Bis heute hat sie sich an die schöne Wohnung noch nicht richtig gewöhnt, und manchmal steht sie zwischen den Türen, verschränkt die Arme und dreht sich langsam im Kreis. In der Liebe dagegen hat sie kein großes Glück gehabt, aber das war ein Glück für sie, denn sonst würde sie jetzt wohl in einer Familie leben und hätte noch ein oder zwei Kinder dazu, die sie höchstwahrscheinlich nicht so sehr lieben würde wie David, was zu großen Problemen führen würde. Immer wieder hat sie Beziehungen gehabt, aber die Männer haben es bei ihr nicht ausgehalten, nämlich aus dem altbekannten Grund, weil sie so eine Streitgretel sei. David haben sie gemocht, und er hat die Männer auch gemocht, aber es ist nicht gegangen. Gerade erst vor einem Monat hat sie sich von einem Mann getrennt, ja, diesmal hat sie sich getrennt. Er ist verheiratet, zweieinhalb Jahre war sie mit ihm zusammen. Das heißt, sie waren nicht zusammen, er hat sie besucht. Es war eine Spätnachmittagsbeziehung. Am späten Nachmittag war nämlich ein Zeitloch, in das seine Frau nicht hineinschauen konnte. Aber nicht öfter als drei- bis viermal in der Woche hat er sie besucht. Und nicht länger als zwei Stunden. Alle zwei Monate oder noch seltener blieb er über Nacht. Viel telefoniert haben sie. Sie kennt seine Frau, eine edel aussehende Person mit melancholischen Augen. Von diesem Mann übrigens hielt David nicht viel. Er sagte, er könne ihr das Wasser nicht reichen. Was er genau damit meinte, weiß sie nicht, der Mann ist immerhin ein hochgebildeter Jurist, der einen hochinteressanten Filmclub aufgebaut hat. Dagmar ist Mitglied in diesem Filmclub. Dort hat sie ihn auch kennengelernt. Kino bedeutet ihr sehr viel, wahrscheinlich soviel wie mir die Literatur. Jetzt geht sie dort nicht mehr hin. Irgendwie ahnt sie, was David meint. Christoph, so heißt der Mann, hat keine Herzensbildung, im Umgang mit Menschen ist er ein Orang-Utan. Er wußte nicht, was er mit ihrem Herz anfangen sollte, und leider hatte sie den Eindruck, ihre Gefühle waren ihm irgendwie peinlich.
Als ich Dagmar am Ende dieses ungewöhnlichsten aller Tage an ihrem Handy anrief – es war halb zwei in der Nacht –, hatte sie sich mit »Wer spricht?« gemeldet.
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