Abendland
sophisticated durfte ich jedoch auch wieder nicht auftreten, er könnte es als Arroganz auslegen. Darin bestand das hervorragende Talent des Dr. Caligari Lenobel: daß er sich auf jeden Menschen einzustellen verstand, so daß sich jeder so ungezwungen geben konnte wie gegenüber einem zweiten Selbst. Es duftete vom Nachbarhaus herüber nach österlichem Hefekuchen, und ein Feenwunsch durchzuckte mich, nämlich daß ich nie älter als zehn Jahre geworden wäre und daß mein zehntes Jahr so lange dauern hätte sollen wie ein ausgelebtes Leben und daß ich dieses Leben in Innsbruck in der Anichstraße verbracht hätte mit der Gewißheit, daß Margarida jeden Sonntag für mich einen Blechkuchen mit Streuseln bäckt. Aus zwei hofseitigen Fenstern unter uns hingen abgezogene gesteppte Bettdecken. Eine Frau, die ich manchmal in der Toreinfahrt traf, wenn sie die Post aus ihrem Fach nahm, stand auf einer Leiter und polierte die Scheiben. Sie trug eine dunkle Strumpfhose, die ihr Becken anmachend betonte, und hatte sich ein leuchtendrotes Tuch in die Haare geknotet. Sie hielt einen Augenblick inne und winkte zu uns herauf. David hob die Hand, als wäre er es, der sie kannte, und ich zu Besuch bei ihm. Aber ich glaubte ihm nicht. Eher konnte ich mir vorstellen, daß er gegen Panik ankämpfte. Das kommt ja vor, daß alle unsere Äußerungen gerade dann dem Ideal von Normalität nacheifern, wenn wir uns ins Extrem gedrängt fühlen. Was mochte er über mich denken? Er führt ein bequemes Leben, ohne Entschuldigung, ohne Scham und vollkommen unabhängig, was kann ich anderes für ihn sein als ein Störfaktor? Ich hätte ihn nicht besuchen sollen; er wäre immer eine Option gewesen, so ist er gar nichts, weniger als ein x-beliebiger Mann, von dem ich mir nie etwas erwartet habe. – Option? Daß er mich auswählte, ihm beizustehen in seiner Not? Und? Kann ich das? Wenige Monate, bevor sich mein Vater das Leben genommen hat, habe ich mit ihm telefoniert, er war aufgekratzt und teilte mir mit, daß er in der Schweiz in einem Studio aufnehme. Ein Jahr lang hatte er die Gitarre nicht mehr angerührt. Er hat mich gefragt, was ich davon halte, wenn er wieder eine Band gründe. Und ich sagte nur: »Ich weiß nicht. Findest du das wirklich eine tolle Idee?« Für ihn war ich nach diesem Telefongespräch wahrscheinlich keine Option mehr gewesen.
Wir rauchten schweigend und ließen am Ende, ohne eine andere Bewegung, als daß wir den Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger ein wenig vergrößerten, gleichzeitig unsere glühenden Stummel in die Tiefe fallen.
»Also gut«, sagte er, und seine Stimme klang brüsk, »ich bleibe bis morgen früh. Kann ich mich jetzt gleich eine Stunde hinlegen? Ich habe wenig geschlafen in letzter Zeit.«
»Gib mir deine Sachen«, sagte ich, »ich stecke sie in die Waschmaschine, bis du aufwachst, sind sie fertig, dann geben wir sie in den Trockner, und am Abend kannst du sie wieder anziehen. Wir beide brauchen halt ein bißchen mehr Zeit. Ist das schlimm?«
Als ich mir sicher war, daß er schlief, rief ich Robert an.
»Ich habe euch beobachtet«, sagte ich.
»Ich habe dich dabei gesehen«, sagte er.
»Hat mich David auch gesehen?«
»Glaub’ ich nicht.«
»Was habt ihr denn so Interessantes besprochen?«
»Du hast mich gebeten, daß ich ihn mir ansehe«, seufzte er herablassend geduldig. »Ich nehme an, du hast damit den Arzt gemeint. Nun, der Arzt hat Schweigepflicht. Also frag’ nicht!«
»Eine Frage wenigstens: Hat er etwas über mich gesagt?«
»Daß du ihn nicht einmal gefragt hast, was er macht.«
»Ich hatte keine Zeit. Gleich nachdem er aufgewacht war, sind wir ins Sperl gegangen, weil ich dich nicht warten lassen wollte, und auf der Straße wollte ich ihn nicht fragen, bei dem Gedränge und dem Lärm, das wäre mir unhöflich erschienen, und im Sperl hast ja gleich du mit ihm gesprochen.«
»Er hat mit mir gesprochen. Ich habe ihn dazu gebracht, daß er mit mir spricht.«
»›Ich bin Jude, ich bin kein Jude, stört es dich, stört es dich nicht …‹ Es hat ihn nicht interessiert. Hast du das nicht mitgekriegt?«
»Es hat ihn interessiert, glaub mir.«
»Ah! Hat er dir vielleicht sogar einen konstruktiven Gegenvorschlag unterbreitet? Daß man sich in Hinkunft begrüßen soll mit: ›Ich bin ein Deutscher, stört dich das?‹«
»Du bist beleidigt.«
»Ja.«
»Und auf was hinaus bitte? Du benimmst dich kindisch. Du bist eifersüchtig.«
»Natürlich bin ich eifersüchtig. Warum
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