Abendland
tust du so, als ob ich ein Feind wäre. Ich bin nicht sein Feind, und ich bin nicht dein Feind!«
»Es war richtig, daß du mich mit ihm allein gelassen hast. Es wird ihm zwar merkwürdig erschienen sein. Aber das schadet nichts. Ich schätze, er hat das Manöver durchschaut. Auch das schadet nichts. Die Söhne können den Vätern nicht in die Augen sehen. Das ist ein uraltes Thema. Davon erzählen uns die Mythen.«
»Das erzählen die Mythen? Das habe ich noch nie gehört.«
»Isaak und Abraham, Jakob und Isaak, Simeon und Jakob …«
»Die haben doch alle ihren Vätern in die Augen gesehen. Ich habe nie etwas anderes gelesen. Das hast du doch in diesem Moment erfunden.«
»Und wenn schon! Freud hat auch alles erfunden – den Ödipus-Komplex, das Unterbewußtsein, die Verdrängung, die Sublimierung, den Freudschen Versprecher, das Es, das Ich, das Über-Ich …«
»Das Ich nicht.«
»… den Todestrieb …«
»Den gibt’s. Davon kann ich ein Lied singen. Mein Vater, dem ich übrigens sehr gut in die Augen sehen konnte, hat sich umgebracht, und meine Mutter hat sich lebendig begraben, und mein Sohn ist suizidgefährdet …«
»Ist er nicht.«
»Er hat immerhin einen Versuch unternommen.«
»Das war Bluff.«
»Woher weißt du das?«
»Er hat mir alles erzählt.«
»Warum dir, einem völlig Fremden? Warum nicht seinem Vater?«
»Du bist ihm nicht weniger fremd als ich. Den kannst du ihm zur Auflockerung erzählen: Zwei Lehrer treffen sich im Kaffeehaus, sagt der eine: Wenn ich Bill Gates wäre, wäre ich wahrscheinlich noch reicher als er. Fragt der andere: Wie das? Antwortet der eine: Ich könnte zusätzlich Nachhilfeunterricht geben.« – Und legte auf.
5
Hier nun Biographisches über die Mitglieder meiner wiederentdeckten Familie, wie sie es selbst – David am Abend, Dagmar in der Nacht – vor mir ausgebreitet haben:
David wollte nach dem Abitur Medizin studieren und Chirurg werden. Sein Notendurchschnitt aber war nicht entsprechend, so daß er von der ZVS (Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen – mit Wonne und Schadenfreude registrierte ich, daß ihm seine Mutter ihre Vorliebe für Abkürzungen mitgegeben hatte) ziemlich weit nach hinten gereiht worden war und vier Semester hätte warten müssen, bis ihm irgendein medizinisches Institut irgendwo in der Bundesrepublik zugeteilt worden wäre. Also gab er seinen Berufswunsch auf und schrieb sich für Wirtschaftspsychologie an der Universität Lüneburg ein. Er wußte nicht, was Wirtschaftspsychologie zum Inhalt hatte, auch nicht, was für eine Tätigkeit draußen im Leben auf einen Wirtschaftspsychologen wartete. Er besuchte eine einzige Vorlesung, die war derart langweilig, daß er auch mit dem besten Willen nicht einmal eine Minute lang im Gedächtnis behalten konnte, was vorgetragen wurde. Hinterher war er erschöpft wie nach einem Dreißigstundentag. Noch vor den Weihnachtsferien exmatrikulierte er sich und kehrte nach Frankfurt zurück. Er meldete sich für den Zivildienst an und bekam eine Stelle beim Diakonischen Werk in einem Tagesheim für Behindertenbetreuung. Von Anfang an gefiel ihm diese Arbeit. Die Patienten mochten ihn. Er hatte sogar den Eindruck, sie mochten keinen Betreuer lieber als ihn. Er hatte sich um vier Spastiker zu kümmern, zwei Frauen, zwei jugendliche Männer. Eine der Frauen hieß Natalie, sie war siebenundzwanzig und hatte ein hübsches Gesicht, wenn es entspannt war, was selten vorkam – in seiner Gegenwart aber eindeutig häufiger als in Gegenwart der anderen Betreuer. Natalie litt unter einer zerebralparetischen Störung, sie hatte bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen. Sie saß im Rollstuhl und konnte nicht sprechen. Es gelang ihr zwar, Laute von sich geben, aber das tat sie nur, wenn es ihr unbedingt notwendig erschien. Sie schämte sich. Sie wußte, die Leute hielten sie für schwachsinnig, wenn sie stöhnte, gurrte, röchelte oder lallte. David bekam die Erlaubnis, Natalie im Rollstuhl durch die Stadt zu schieben. Sie besuchten den Zoo, und während eines Wolkenbruchs flüchteten sie sich in das Giraffenhaus. Dort waren sie allein. Ihm ging es zu dieser Zeit nicht besonders gut, und das erzählte er ihr angesichts der Giraffen, und er erzählte auch, warum es ihm nicht so besonders gut ging. Sie tröstete ihn. Sie hatte noch nie in ihrem Leben jemanden getröstet, sonst war immer sie getröstet worden. Natalies Mutter lud ihn an einem Wochenende nach Hause ein. Natalie tanze gern, sagte
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