Abendland
Dutzend Besuchen hier – alles für uns, alles von uns, alles wir, nur wir. »Setz dich wieder«, sagte ich. »Es strengt dich zu sehr an.«
»Sei doch nicht so ein dummer Hund!« fuhr er mich plötzlich an. Die Verzagtheit blieb in seinen Augen stehen. »Diese Abgeklärtheit eines Mannes in den mittleren Jahren!« rief er aus. »Wie blöd ich das finde! Können wir uns gegenseitig nicht einmal sagen, was uns im Innersten weh tut?«
»Ausgerechnet du fragst das?«
»Was soll das heißen? Ich habe dir alles erzählt. Seit du hier bist, haben wir nur von mir gesprochen.«
»Erstens hast du dir das gewünscht, und zweitens ist es nicht wahr«, sagte ich. »Ich habe dir sehr viel von mir erzählt.«
»Was tut dir weh? Eine einfache Frage.«
»Ich bin in Wien mit einer Frau zusammen, es ist eine lockere Verbindung.«
»Was kann daran weh tun?«
»Sie liebt mich mehr, als ich sie liebe.«
»Das wird ihr weh tun.«
»Genau gesagt: Ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich sie liebe.«
»Um so mehr tut es ihr weh. Aber was geht sie mich an. Ich kenne sie nicht, und ich werde keine Gelegenheit mehr haben, sie kennenzulernen. Ich will wissen, was dir weh tut!«
»Sie schläft mit anderen Männern. Genau gesagt: mit zwei Männern. Ab und zu. Gleichzeitig. Genügt dir das?«
»Ein Mann schläft mit deiner Frau, das verdoppelt ihren Wert und damit auch deinen.« Er kicherte, seine Knie fingen an zu zittern. »Und mit zwei Männern – bitte! Du darfst deinen Wert mit vier multiplizieren! Woher weißt du es?«
»Sie hat es mir gesagt.«
»Warum?«
»Als wir uns erst wenige Tage kannten … ich habe sie gefragt, ob sie schon einmal mit zwei Männern gleichzeitig im Bett war.«
»Und hast natürlich damit gerechnet, daß sie nein sagt.«
»Sie hat ja gesagt.«
»Und hat dir bei Gelegenheit die beiden gezeigt?«
»Hat sie.«
»Auch vorgestellt?«
»Nein, danke.«
»Woher weißt du, daß sie nicht lügt?«
»Sie lügt nie.«
»Das ist wenig wahrscheinlich.«
»Sie ist wenig wahrscheinlich.«
»Interessant. Wie sieht sie aus?«
»Sie würde dir gefallen.« Den Vormittag hatten wir damit zugebracht, uns alte Fotografien anzuschauen. Auf den meisten war Margarida zu sehen, ihr Gesicht, das ich so gern gehabt hatte. Deshalb sagte ich: »Sie ist Margarida nicht unähnlich.«
»Wie ist ihr Name?«
»Evelyn.«
»Das klingt androgyn. Ich muß dir gratulieren. Das hört sich doch alles sehr anregend an. Da ist für Leben gesorgt, will ich doch meinen. Es ist mir dennoch ein Rätsel, warum sie dich nicht angelogen hat. Es hätte nur Vorteile gehabt, meine ich.«
» Ich habe dich angelogen«, sagte ich. »Nichts ist wahr. Ich wollte mich nur interessant machen. Evelyn und ich haben eine ganz normale Beziehung.«
»Es war nicht gelogen«, stellte er in ärgerlichem Ton klar. »Du benimmst dich nicht erwachsen und außerdem unloyal ihr gegenüber.«
»Du bist der Logiker. Wenn du meinst, du könntest die erotische Teilmenge meines Lebens berechnen …«
Er konterte, ebenfalls ohne einsichtigen Zusammenhang: »Weder Logik noch Erotik vermögen das Leben auf Dauer schön einzurichten.«
»Das schöne Leben kommt einem bei den meisten Handlungen erst gar nicht in den Sinn«, versuchte ich mitzuhalten.
»Eben weil wir Affen sind!« rief er triumphierend. »Affen mit Prinzipien!« Und fing an zu bellen. Und wollte nicht damit aufhören.
»Laß es gut sein, bitte!« sagte ich. Ich griff unter seine Achseln, stemmte ihn etwas in die Höhe und drückte ihn sanft in den Rollstuhl zurück.
Wir verfielen in Schweigen, als wären wir zu einem Waffenstillstand gelangt. Starrten hinunter auf den See. Zwei Entertainer am Ende ihrer Doppelconférence. Ein uralter und einer in den besten Jahren. Der eine im Rollstuhl, der andere mit Kontinenz- und Potenzproblemen. Auf unserer Seite des Sees schneite es noch, aber drüben, wo das Schilf aus dem vereisten Wasser wuchs, lag bereits ein Streifen Sonne.
»Wenn ich nicht wüßte …«, sagte er nun mit einem traurigen, tapferen Ernst in den Augen, »wenn ich nicht wüßte … wenn ich nicht wüßte …« Er griff nach hinten, suchte meine Hand und teilte mit den Fingerspitzen leichte Klapse aus. Vielleicht sah er etwas, das seine Aufmerksamkeit ablenkte, eine zertretene Coladose, eine von Schnee, Regen und Sonne ausgebleichte Marlboroschachtel, etwas flüchtig Diesseitiges, was in diesem Augenblick die Rolle übernehmen hätte können, eine Metapher für alle Lebendigkeit zu sein,
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