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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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das sich aber weder durch Phantasie noch Paradoxie mit dem Gedanken verbinden ließ, den er gerade zu formulieren versuchte. »Wenn ich nicht wüßte, daß jede gute Gleichung jeder Glaskugel vorzuziehen ist, würde ich dich jetzt bitten, mich zu jemandem zu schieben, der kompetent Auskunft geben kann, was einen nach dem Tod erwartet.« Ich vermutete, er hatte etwas anderes sagen wollen, etwas Belangloses, es aber vergessen und, weil durch dreimaliges Ansetzen zuviel Gewicht erzeugt worden war, zum naheliegend Schweren, nämlich zur Metaphysik, gegriffen, um meine Erwartung zu befriedigen. Metaphysisches aus seinem Mund klang sentimental. Er rückte seinen Oberkörper zurecht, mit stummer, brüsker Gründlichkeit.
    Auf dem Weg zurück zu seinem Haus bat er mich, die letzte Viertelstunde zu vergessen. Nuschelte eine Entschuldigung. »Ich glaube nicht an Gott. So ein altes Arschloch wie ich! Gödel soll an einem mathematischen Gottesbeweis gearbeitet haben. Er ist gestorben, bevor er damit fertig war. Das nenne ich Ironie! Einen Augenblick lang habe ich mich jung gefühlt. So ein altes Arschloch wie ich! Wenn es einen Gott gibt, bin ich unbestreitbar von ihm begünstigt. Und trotzdem angeschissen! Dankbar bin ich nicht. Es ist mir egal. Ich muß mich bei dir entschuldigen.« Ein fremder, seelenvoller Blick traf mich, aber der Glanz war aus seinen Augen gewichen. – Ich habe Carl Jacob Candoris übrigens nie vorher fluchen hören. Nie. Und nie habe ich ein ordinäres Wort aus seinem Mund gehört. Niemals.
    Bevor wir bei der Kehre angekommen waren, von wo der Weg über ein kurzes steiles Stück zum Haus hinaufführt, sagte er: »Fahr’ mich vor zur Straße, ich möchte noch nicht nach Hause, ich möchte Autos hören und Autos riechen.«
    Ich schob den Rollstuhl bis zur Haltestelle der Lanserbahn.
    »Nicht unter das Dach!« befahl er. »Mich stört der Schnee nicht. Ich weiß, es wäre weitaus poetischer, wenn sich ein Mensch, der dem Tod so nahe ist, den Geruch von Fichtenharz oder Waldboden wünscht. Ich wünsche mir Autoabgase. Laß uns warten, bis wenigstens der Bus kommt.«
    Wir standen auf dem schmalen Streifen zwischen den Schienen und der Straße. Der Schnee fiel nun in breiten Flocken. Immer wieder drang die Sonne durch die Wolken und warf leuchtende Flecken, einmal mitten auf den verschneiten Stoppelacker hinter den Geleisen, einmal auf das Gehölz unten beim See, einmal auf das Dach von Carls Haus.
    »Warum«, kam er noch einmal auf unser vorangegangenes Gespräch zurück, »warum hältst du dich mit einer Frau auf, die neben dir noch zwei andere Männer hat und die du nicht liebst?«
    »Ich habe nicht gesagt, ich liebe sie nicht. Ich habe gesagt, sie liebt mich mehr als ich sie.«
    »Liegt es nicht in der Natur der Liebe, daß man genau so einen Satz nicht sagen kann, wenn man liebt? Laß’ sie gehen! Oder schick’ sie weg! Oder, wenn du es nicht anders kannst, erklär’ ihr, daß ihr nicht zusammenpaßt, daß ihr beide euer Leben vergeudet, sie an jemanden, den sie mehr liebt, als er sie liebt, du an jemanden, den du weniger liebst, als du es dir wünschst.« – Er lachte, warf den Kopf zurück über die Lehne seines Rollstuhls und sah mir verkehrt herum in die Augen. »Ich weiß, was du denkst, Sebastian. Was versteht der von der Liebe, denkst du. Hab’ ich recht?«
    Ob er jemals zu Margarida gesagt hatte: Ich liebe dich? Ich hätte ihn fragen sollen. Der Unterschied zwischen den beiden Paaren in »unserer Familie« hätte größer nicht sein können. Während ich mir bei meinem Vater und meiner Mutter, auch in Zeiten, in denen Bedrücktheit und Gekränktheit unseren Haushalt beherrschten, immer sicher gewesen war, daß ihre Herzen aufeinander ausgerichtet waren – was sie nicht weniger unglücklich als glücklich sein ließ –, erstaunte mich bei Carl und Margarida, daß die beiden einander überhaupt gefunden hatten. Außer, daß sie in fast allem einer Meinung waren; außer, daß sie sich ein gemütliches Zuhause sowohl in Wien und in Lissabon als auch in Innsbruck und später in Lans geschaffen hatten; außer, daß sie sich gegenseitig respektierten, wie ich es nie bei zwei Menschen erlebt hatte – eben absurderweise außer all dem, was ein Paar zu einem idealen Paar macht, hatten die beiden nichts miteinander zu tun. Meine Eltern liebten sich und waren verkrallt ineinander, mein Vater in offener Verzweiflung, meine Mutter auf ihre rätselhafte Art unnachgiebig und konstant; Carl und Margarida

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