Abendland
waren nicht ineinander verkrallt, und sie liebten sich nicht. – Dieser Eindruck war natürlich grundfalsch.
»Ich habe mein Handy dabei«, rief er in den Lärm eines vorbeifahrenden Autos hinein. »Ruf sie an! Jetzt! Sag ihr, daß es aus ist! Schluß! Vorbei! Am Telefon ist das leichter. Und vor mir brauchst du dich nicht zu genieren.«
Er klappte das Handy auf, hielt es mir über seine Schulter entgegen und sagte mit verändertem Tonfall: »Was war der Grund, warum ihr euch getrennt habt?«
Ich wußte genau, was er meinte; aber ich sagte: »Was meinst du? Wer hat sich getrennt?«
»Dagmar und du?«
»Dagmar und ich? Lieber Himmel, das ist zwanzig Jahre her!«
»Warum?« insistierte er.
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Ihr habt einen Sohn miteinander. Du mußt doch wissen, warum ihr nicht zusammengeblieben seid!«
»Mehrere Gründe.«
»Nenne mir einen!«
»Willst du das wirklich wissen? Daß ich zum Beispiel zu meinem Entsetzen an mir entdeckte, wie ich ihre Art zu sprechen nachäffte, wenn sie nicht in der Nähe war, wenn ich Milch und Brot im Supermarkt besorgte oder in der UB saß, und daß sie mir erzählte, wie sie mich am hellichten Tag in halblauten Selbstgesprächen zu einem Popanz aufblase, um ihn anschließend nach Strich und Faden niederzuargumentieren. Genügt das?«
Auf dem Rückweg zur Villa hinauf erzählte er mir, daß er vor neunzehn Jahren, als Margarida gestorben war, nach Göttingen gefahren sei und daß ihn die Stadt, in der er als Kind und als Student so glücklich gewesen war, nun mit Trübsinn eingedeckt habe; daß er weiter nach Brüssel gefahren sei, um sich in der verzweifelten Hoffnung auf irgendeine Erlösung im Königlichen Institut für Naturwissenschaften den Ishango-Knochen anzusehen, in den vor achteinhalbtausend Jahren Menschen Primzahlen in Form von Kerben eingeritzt hatten, daß er durch den Anblick dieses uralten kleinen Knochens aber nicht erhoben, sondern in eine nachgerade irrwitzig komische Melancholie gestoßen worden sei, die seinem Gesicht im Hotelspiegel einen perfekten Ausdruck von Dummheit verliehen habe; daß er bereits am nächsten Tag weitergefahren sei, kreuz und quer durch Deutschland – nach Aachen, Wuppertal, Remscheid, hinunter nach Mannheim, hinüber nach Würzburg und eben auch nach Frankfurt – und daß er dort Dagmar und David besucht habe.
»Ich wußte in meiner Not nicht, an wen ich mich wenden sollte«, sagte er.
Als mich Frau Mungenast in Wien anrief und mir mitteilte, daß Professor Candoris gestorben sei, saß David neben mir. Er hat mich besucht, ja. Er hat mich besucht, weil ihn Carl darum gebeten hatte. Und er hatte ihn mit der Absicht darum gebeten, seine Mutter und mich wieder zusammenzubringen. Carl hatte über all die Jahre mit Dagmar und David Kontakt gehalten. Ich hatte nichts davon gewußt. Gleich nach Davids Geburt hatte er ein Konto auf dessen Namen eröffnet und jeden Monat 200 D-Mark einzahlen lassen. Zu Davids achtzehntem Geburtstag schickte er ihm das Sparbuch. Fünf-, sechsmal war er bei ihnen in Frankfurt gewesen. Wenn’s reicht. Und David wiederum hatte Carl besucht, mehrere Male, über die Weihnachtsferien zusammen mit Freunden zum Schifahren, in den Sommerferien in Wien, dort hatte er sogar einmal einen guten Monat lang in der Wohnung am Rudolfsplatz gewohnt.
»Ich kann mich nicht erinnern, wie ich ihn kennengelernt habe«, sagte David.
»Was ist deine erste Erinnerung?« fragte ich ihn.
»Ich sehe Carl in unserer Küche in Frankfurt sitzen. Ich muß einen komischen Satz gesagt haben, erzählt Mama, und Carl und sie haben gelacht. Er war auf jeden Fall der erste Mensch, mit dem ich telefoniert habe, das weiß ich bestimmt. Einmal pro Woche, meistens am Sonntagabend, hat er bei uns angerufen.«
Das kam mir alles bekannt vor, sehr bekannt. Am Ende habe Carl sogar jeden Tag in Frankfurt angerufen. Das wollte ich genau wissen.
»Wann am Ende?«
»Als du bei ihm in Lans warst. Nach deiner Operation.«
Zweites Kapitel
1
Carl Jacob Candoris wurde am 18. Mai 1906 in Meran geboren. Sein Vater, Kajetan von Candoris, stammte aus einem Südtiroler Geschlecht, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, dank der braven Beamtentätigkeit dreier vorangegangener Familienoberhäupter, in den Stand der Edlen nobilitiert worden war. Kajetan diente als Oberleutnant in der österreichisch-ungarischen Armee und war in Brixen stationiert. Nach der Geburt seines Sohnes erhielt er von seinen Vorgesetzten die Erlaubnis, drei Nächte in
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