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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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besuchten, waren die Lücken geschlossen; ich fand dazwischen Platz. Alles war gut. Meine Eltern taten, was sie, wenn sie allein mit mir waren, nie taten: Sie umarmten sich, sie küßten sich, meine Mutter setzte sich auf den Oberschenkel meines Vaters und legte ihre Hand an seine Wange; und mein Vater wickelte ihr Haar um seinen Finger, so gedankenverloren, wie man es tut, wenn man es oft tut. Vor allem aber: Sie blickten einander in die Augen, wenn sie sprachen, und ich hatte den Eindruck, sie blickten einander gern in die Augen. Meine Mutter schenkte ihrem Mann Wein ein, er trank; ohne sich zu schämen, trank er; er trank nicht mehr und nicht weniger, als die anderen tranken; niemand machte ihm Vorwürfe … – Deshalb mußte ich weinen, als mir mein Vater mitteilte, daß Carl und Margarida aus Innsbruck kommen und über den Sommer in Wien bleiben: weil ich wußte, nun würde die Last von mir genommen. Für den Rest der Ferien würden Carl und Margarida unserer Familie ein Gerüst geben, und wann immer es mir gefiele, würde ich in die 71er steigen und bis zum Ring fahren und dann über den Heldenplatz zur Freyung und durch den Tiefen Graben zum Rudolfsplatz gehen.
    »Erinnerst du dich an den Nachmittag im Sommer, als dieses Gummilager in Simmering abgebrannt ist und eine riesige schwarze Rauchwolke über der Stadt hing?« fragte ich Carl. »Da waren wir auch in den Donauauen gewesen. Du, Margarida, Papa und ich. Mama war nicht dabei, sie mußte arbeiten. Und auf einmal bist du verschwunden. Wir haben dich gesucht. Den ganzen Nachmittag haben wir dich gesucht.«
    »Ich bin verschwunden? Plötzlich? Wie meinst du das?« fragte er.
    Ich hörte an seinem Tonfall, daß er genau wußte, was ich meinte, weil er sich ebenso gut an diesen Nachmittag erinnerte wie ich. Aber er sagte: »Davon weiß ich nichts. Und an eine Rauchwolke über Simmering erinnere ich mich auch nicht.«
    Carl und ich waren bis zu der Plattform geschwommen, die ein Stück weit draußen über leeren Ölfässern errichtet und verankert worden war. Dort wollten wir über die schlammige Metalleiter auf die Planken klettern und mit einem Köpfler ins Wasser springen. Ich rief über die Schulter Margarida und meinem Vater zu, sie sollen schauen. Ich hatte vor, einen Salto vorwärts zu probieren. Margarida lehnte mit dem Rücken an der Stange des Sonnenschirms, mein Vater lag auf der Decke und hatte seinen Kopf in ihrem Schoß. Kaum war Carl auf die Plattform gestiegen, sprang er auch schon wieder ins Wasser und schwamm mit breiten Zügen ans Ufer zurück. Ich sah, wie er auf Margarida und meinen Vater zuschritt, langsam, in einem ruhigen Rhythmus, Wassertropfen glitzerten auf seinem braunen, sehnigen Körper; sah, wie er sich niederbeugte, seine Kleider vom Boden aufnahm und mit ihnen in Richtung der Umkleidekabinen davonging. Ich dachte, er will bei dem italienischen Stand hundert Meter weiter vorne Eis holen für uns alle, und ich wunderte mich auch nicht, daß er dafür seine Kleider mitnahm, es war nicht seine Art, in Badehose unter die Leute zu gehen, auch wenn diese Leute ihrerseits nichts weiter als Badehosen und Badeanzüge trugen. Ich war enttäuscht, daß mir keiner bei meinem Salto zusehen wollte, ich bin an Land geschwommen und habe mich in die Sonne gelegt, um mich aufzuwärmen.
    Margarida und mein Vater nahmen keine Notiz von mir. Sie sprachen über das Trinken. Auch Margarida, bekam ich mit, habe ein Problem mit dem Trinken. Ein Problem mit dem Trinken und ein Problem mit dem Rauchen, sagte sie. Am Montag sei es das Trinken, am Dienstag das Rauchen, am Mittwoch wieder das Trinken und am Freitag wieder das Rauchen und am Wochenende beides. Sie lachte, und mein Vater lachte mit. Ich fragte, was am Donnerstag sei; aber keiner gab mir eine Antwort. Am Abend zuvor hatten wir in einem Restaurant in der Innenstadt Margaridas neununddreißigsten Geburtstag gefeiert und waren hinterher noch lange am Rudolfsplatz zusammengesessen. Mein Vater hatte auf der Gitarre gespielt und gesungen; bei manchen Stücken hatte ihn Carl auf dem Klavier begleitet; meine Mutter hatte ein Lied gesungen, auch Margarida hatte ein Lied gesungen, einen Fado aus Lissabon oder ihrer Heimatstadt Coimbra. Sie hatten Wein getrunken, aber betrunken war keiner von ihnen gewesen; am ehesten noch meine Mutter, weil sie keinen Alkohol vertrug. Ich hatte nie für möglich gehalten, daß Margarida eine Säuferin sei, wie mein Vater ein Säufer war. Auch daß sie zuviel rauchte, war

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