Abendland
mir nicht aufgefallen. Damals haben alle Erwachsenen geraucht. Ich kannte keine Frau, die so eine dunkle Stimme hatte wie Margarida. Sie sah auch ein bißchen wie ein Mann aus mit ihren starken, dunklen Augenbrauen, den gelben, überlangen Zähnen, ihrem großen Kopf mit den unfrisierbaren Haaren, der so gar nicht auf ihren schmächtigen Körper paßte. Mein Vater war sechs Jahre jünger als sie, aber aus seinem Gesicht hätte man auf gut zehn Jahre mehr geschlossen. Das Verhältnis von Kopf zu Körper war bei ihm ähnlich wie bei Margarida: ein harter, männlicher Schädel, das Gesicht im Gegensatz zu ihrem allerdings so gut wie immer ernst und humorlos, der Körper ebenso zierlich und die Haut käsig. Mein Vater, den Kopf immer noch in ihrem Schoß (vielleicht hatte er gar nicht mitbekommen, daß ich neben ihnen im Gras lag), sprach in ruhigem, besonnenem, einsichtigem Ton über sein Problem. Er wolle sich noch eine Chance geben, aus eigener Kraft vom Saufen wegzukommen; wenn er das nicht schaffe, werde er sich einer Kur unterziehen. Margarida sagte: »Dann gehen wir miteinander, Georgie. Ist das gut?« Mein Vater verrenkte seinen Arm, erwischte ihre Hand am Daumenballen und sagte: »Das ist gut.«
Ein wenig war ich traurig. Denn genau so ein Gespräch hätte ich mir gewünscht, als ich ihn gebeten hatte, nicht mehr zu trinken. Aber mit einem Siebenjährigen führt ein Alkoholiker kein solches Gespräch, vor allem nicht, wenn der Siebenjährige sein Sohn ist. Sondern er brüllt. Und lügt. Zum Beispiel brüllt er: »Du behauptest also, ich trinke? Gut, dann trinke ich eben! Siehst du diese Flasche? Die trinke ich jetzt aus. Du hast gesagt, ich trinke, also trinke ich. In einem Zug trinke ich diese Flasche jetzt aus. Und wenn sie leer ist, weißt du, was ich dann mache? Dann fresse ich sie auf. Du weißt sicher, was Glasscherben im Magen eines Menschen anrichten? Du weißt es. Du weißt ja alles.« An diesem Nachmittag in den Donauauen dachte ich: Am besten wäre es, wenn mein Vater und meine Mutter sich trennten und Carl und Margarida sich ebenfalls trennten und wenn mein Vater und Margarida sich zusammentun.
Schließlich wurden Margarida und mein Vater unruhig, weil Carl nicht zurückkam. Sie schickten mich los; aber ich wußte nicht, wo ich ihn suchen sollte, und trottete zwischen den Liegestühlen und Sonnenschirmen herum und war unglücklich und rief leise seinen Namen, halb hoffend, er hört mich, halb hoffend, er hört mich nicht, weil ich dachte, es wäre ihm bestimmt unangenehm vor all den Leuten, wenn ich seinen Namen rufe. Die schwarze Rauchwolke am Himmel, die sich inzwischen bis zu uns herüber ausgebreitet hatte, war mir wie ein Vorzeichen zu etwas Schrecklichem. Auch wenn ich es besser wußte, ich brachte sein Verschwinden mit mir in Verbindung, daß ich Schuld daran hatte; daß er es mit mir nicht mehr ausgehalten hatte; daß ich mich zu sehr auf ihn gefreut, mich zu lästig an ihn gehängt hatte; daß er all das, was ich ihm auflastete, weil ich es wenigstens für die Zeit der Sommerferien nicht tragen wollte, ebenfalls nicht tragen wollte.
Am Abend fuhr ich mit Margarida erst mit dem Bus und vom Praterstern mit der Straßenbahn in die Stadt zurück. Ich weiß nicht, warum mein Vater nicht mit uns fuhr. Vielleicht hatte er etwas zu tun. Oder sie hatten sich getrennt – mein Vater sollte in der Penzingerstraße auf Carl warten, Margarida am Rudolfsplatz.
Carl saß an seinem Schreibtisch und rührte sich nicht, als wir sein Arbeitszimmer betraten. Margarida sagte zu mir, ich solle im Salon warten, sie müsse mit Carl reden. Ich stellte mich hinter die Tür und lauschte. Was ich hörte, erschütterte mich so sehr, daß ich davonlief – hinaus aus dem Haus, durch die Innenstadt und über die Mariahilferstraße hinauf bis zum Westbahnhof und weiter in die Penzingerstraße, und dort schloß ich mich in meinem Zimmer ein. Ich hatte Carl jammern hören. Ich hatte nicht verstanden, was er sagte, dazu war die Tür zu massiv. Außerdem sprachen die beiden – wie immer, wenn sie allein waren – portugiesisch. Nur seinen weinerlichen Ton hatte ich gehört: ein kleinliches, klägliches Quengeln. Ich benötigte lange, um wieder mein Lot zu finden; und noch ein Stück länger, um meinen Helden in mir wieder aufzurichten – wenigstens zu Lebensgröße.
7
Bei unserem letzten Spaziergang hinunter zum Lansersee dachte ich, er stirbt. Jetzt. Hier. Im Schneegestöber. Über den Bäumen konnte ich den sanften
Weitere Kostenlose Bücher