Abendland
der Woche zu Hause bei seiner Frau zu verbringen. Das schrieb er – und betonte es durch Unterstreichung – in einem Brief an seinen Schwiegervater in Wien.
Dieser Brief stellt den einzigen Gegenstand dar, der Carl an seinen Vater erinnerte. Von Kajetan von Candoris existieren weder Bilder noch irgendwelche Dokumente, keine persönlichen Kleinigkeiten – Tabakspfeife, Rasiermesser oder Spazierstock –, nicht einmal eine Anekdote über ihn gibt es. Er fiel bald nach Beginn des Ersten Weltkriegs in der Schlacht bei Lemberg in Galizien. Nur dieser Brief ist da; und es ist nichts an ihm, was einem ans Herz wachsen könnte. Ein vergilbter Bogen, zweifach gefaltet, am Kopf versehen mit dem Abdruck der Stampiglie des XX. Korpskommandos Brixen. Der Brief ist in sauberer Kurrentschrift geschrieben und beginnt mit: »Sehr verehrter Herr Bárány, lieber Schwiegerpapa!« Es folgen Beschreibungen der ehelichen Wohnung, der täglichen Routine beim Dienst, eines Wochenendausflugs in die Dolomiten gemeinsam mit seiner Frau, schließlich der erwähnte, in voller Länge unterstrichene Hinweis auf seine dienstliche Bevorzugung – alles in einem hölzernen Stil verfaßt, der weder rührend noch komisch wirkt, sondern tatsächlich wie aus einem der damals gebräuchlichen Briefschreibehilfen übernommen. Unter »Hochachtungsvoll« und der Paradeunterschrift »K. v. Candoris« folgte, etwas abgesetzt und ebenfalls in voller Länge unterstrichen, ein Postscriptum: »Dieser Brief ist auf Drängen meiner lieben Frau, Charlotte von Candoris, geschrieben worden, die hier in Brixen nach ihren eigenen Worten sehr glücklich ist.«
Der Zweck des Briefes war Beschwichtigung. Sein Vater nämlich, erzählte Carl, habe den Schwiegereltern gegenüber behauptet, er sei mehrere Male beim Ministerium vorstellig geworden, um nach der Heirat in Wien, der Heimatstadt seiner Gemahlin, bleiben zu dürfen; die Stationierung in Südtirol sei ausdrücklich gegen seinen Willen geschehen. Herr Bárány aber stellte Erkundigungen an und erfuhr, daß – im Gegenteil – dringend darum gebeten worden war, in Brixen den Dienst antreten zu dürfen.
»Das Postscriptum war ebenfalls gelogen«, bemerkte Carl. »Meine Mutter hatte Heimweh. Eltern und Verwandtschaft ihres Mannes verhielten sich präpotent und abweisend gegen sie. In Wahrheit hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch, als endlich wieder in Wien zu leben. Daß mein Vater sie in dem Brief an ihre Eltern nicht einfach nur Charlotte, sondern ›von Candoris‹ nannte, läßt sich nur aus einem für mich schwer nachvollziehbaren Dünkel erklären, der ihm vielleicht gar nicht bewußt war – was ein erbärmliches Licht auf seine Intelligenz werfen würde –; oder seine hohe Nase war ihm wichtiger als die Versöhnung mit einem ›Bürgerlichen‹ – wenn so, warum der Brief? –; oder aber diese Blasiertheit war gezielt und absichtlich herablassend gemeint – in diesem Fall wäre der Brief allerdings eine Art Kriegserklärung gewesen, was ich mir auch wieder nicht vorstellen kann. Meine Großeltern jedenfalls empfanden dieses ›meine liebe Frau, Charlotte von Candoris‹ als Dummheit, Arroganz und Frechheit.«
Frau Mungenast hatte uns im Arbeitszimmer ein kleines Abendbrot hergerichtet und war anschließend in ihr Zimmer gegangen. Es hatte am späten Nachmittag zu schneien begonnen, mit Einbrechen der Dunkelheit hatte der Himmel aber wieder aufgeklart. Ich hätte gern durch die breite Fensterfront auf das Tal hinuntergeschaut, das vom Mondlicht beschienen war; aber Carl wünschte, daß ich die Vorhänge zuziehe. »Es lenkt uns ab«, sagte er.
Er fragte: »Brauchst du noch etwas?«
»Ich habe alles«, sagte ich.
Der Raum umfaßte die Breite des Hauses und bestand aus zwei Teilen, die durch einen Deckensturz und ein schmales Regal, das aus der Wand sprang, andeutungsweise getrennt waren. Die Wände des kleineren Teils waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern und CDs vollgestellt, mitten darin stand ein weitflächiger Schreibtisch aus hochglänzendem Teakholz. Carl kaufte jedes Buch, das ihn auch nur irgendwie ansprach, aber hatte es nie gemocht, allzu viele davon um sich zu haben. Solche, bei denen er sich sicher war, daß er sie nicht mehr in die Hand nehmen würde, sortierte er immer wieder aus, wobei ich nicht weiß, ob er sie irgendwo im Haus, im Keller vielleicht, lagerte oder nach Wien schickte oder irgendwelchen Bibliotheken schenkte oder ob er sie einfach wegwarf. Ebensoviel Platz wie die
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