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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Bücher nahmen die CDs ein. Als die Compact Disc aufkam, kaufte er sich alle Aufnahmen, die ihm etwas bedeuteten, nach und räumte die Schallplatten aus den Regalen. Die Pressungen, die auf den neuen Tonträgern nicht mehr in den Handel kamen, ließ er sich später von einem Studenten, den er im Sommersemester offiziell als seinen Sekretär anstellte, von Schallplatte auf CD brennen. Im größeren Teil des Raumes, von dem aus eine Tür hinaus auf die Terrasse führte, standen nahe der Fensterfront ein Eßtisch für zehn Personen, weiters eine Gruppe, bestehend aus einem Chesterfield, einer Zweisitzer- und einer Dreisitzercouch aus rostbraunem Leder, und Carls alter, dunkelgrüner Lehnsessel. Die Fensterecke nahm der Stutzflügel ein, ein ahornbraunes Stück, schon mehrmals renoviert, das er von seinem Großvater geerbt hatte. Der Kamin war für meinen Geschmack etwas überdimensioniert, was aber nur auffiel, wenn er kalt war; es ließ sich darin ein rechtes Lagerfeuer aufschichten, die Flammen erleuchteten den Raum und holten die Wildnis herein, eine Idee davon wenigstens.
    Ich löschte die Lichter, nur die Stehlampen neben seinem Lehnstuhl und der Couch, auf der ich mich eingerichtet hatte, ließ ich brennen. Carl saß dicht am Feuer, die Hände hatte er im Schoß gefaltet, die Daumen kratzten einander den Rücken. Neben ihm auf einem Beistelltischchen standen eine Kanne mit Tee und ein Teller mit belegten Broten, die Frau Mungenast in briefmarkengroße Quadrate geschnitten hatte, ein Apfel und ein Messerchen sowie eine einzelne Zigarette auf einem Teller und eine Schachtel Streichhölzer. Die Brote, die für mich gedacht waren, hatte sie lediglich halbiert. Eine Flasche Wein stand neben meinem Teller, ebenfalls eine Kanne Tee, eine kleine Tafel Schokolade, Orangen, Bananen, Äpfel.
    Ich hatte vorgeschlagen, wenigstens bei unserer ersten Sitzung mein Diktiergerät mitlaufen zu lassen. Es ist ein digitales Gerät, auf dem mehr als vier Stunden Platz hätten; das müßte, sagte ich, für den ersten Abend doch genügen. Zufrieden war er damit nicht. Ich versprach ihm, die Aufnahme in den nächsten Tagen in die Hefte zu exzerpieren. »Ich muß mich erst in meine Rolle eingewöhnen, und wir wollen ja nicht, daß etwas verlorengeht.«
    Auf dem Kaminsims lagen ein kleines Buch und eine Mappe. Er bat mich, ihm diese beiden Dinge zu geben. Die Mappe enthielt neben anderen zusammengefalteten und glatt gepreßten Papieren den Brief seines Vaters. Das Buch war eine Auswahl aus Giacomo Leopardis Zibaldone , ein schmales Bändchen, gut fünfzig Jahre alt, schätzte ich, von kleinem Format, gebunden in grauem Hartkarton.
    »Es wird dir sicher merkwürdig vorkommen, daß ich mir so etwas wie ein Motto ausgesucht habe. Sieh es mir nach! Und noch etwas: Ich spüre, du kommst dir instrumentalisiert vor. Du brauchst mir nicht zu widersprechen, ich spüre es. Ich an deiner Stelle käme mir gewiß so vor. Sieh mir auch das nach! Du kannst auf deine Bücher verweisen, dein Vater konnte auf seine immense Musikalität verweisen. All die Menschen, die mir soviel bedeutet haben, haben etwas hinterlassen, denke ich. Ich habe nur mein Leben, und das Beste daran war die Begeisterung, die ich für die empfand, die über so viele Talente verfügten. Ich möchte dir etwas vorlesen.« – Er schlug das Buch auf, wo ein gefaltetes Blatt eingelegt war. – »Leopardi hat gedacht wie ich. Vielleicht war er im Charakter mir ähnlich. Ihm hat es an nichts gemangelt, zugleich aber an allem. Er hatte zu jeder Zeit seines Lebens die besten Aussichten und war dennoch ein Pessimist. Was hier steht, ist meine Erfahrung. Ich gestatte mir, ihn etwas zusammenzuziehen. Hör zu: ›Dies ist das Eigentümliche der wahrhaft großen Werke, daß sie auch dann, wenn sie die Nichtigkeit aller Dinge vor Augen führen, wenn sie die unüberwindliche Glücklosigkeit des Daseins erkennen und spüren lassen, wenn sie die gräßlichste Verzweiflung ausdrücken, dennoch einer hohen Seele, mag sie sich auch in einem Zustande äußerster Niedergeschlagenheit und Enttäuschung, Mutlosigkeit und Verneinung befinden, stets zum Troste gereichen, zu neuer Begeisterung wecken und wenigstens für den Augenblick das verlorene Leben wiederschenken.‹«
    Eine Weile schwieg er, das Buch zwischen seinen blassen, knittrigen Fäusten. Endlich sagte er: »Ich habe nie an etwas anderes geglaubt als an das, was Menschen bewerkstelligen. Daran aber schon. Und nun sollst du dein Diktiergerät

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