Abendland
Meinung von ihr.
»Es wird eine Revanche geben«, sagte sie und zog das sorgenvollste Gesicht, das sie sich in ihrem Badezimmerspiegel vorstellen konnte. »Als Boxer ist Barrence verloren, das weiß ich so gut wie jeder andere. Aber wir Frauen denken weiter als ihr Männer, und ich will Barrence als Mensch bewahren. Und deshalb muß er die Chance haben, in Würde abzutreten.«
Der Reporter hob die Schulter. Und ohne sich darum zu kümmern, ob das eine mit dem anderen etwas zu tun haben könnte, fuhr Maybelle mit sanfter Stimme fort: »Wir haben ein Problem mit Barrence, er ist schwul.«
Norman Corcoran fiel das Muffin aus dem Mund.
Sie blätterte von nun an jeden Tag die Zeitungen durch, an die dieser Reporter seine Artikel verkaufte. Einmal fand sie einen Nebensatz, in dem hieß es: »Es gibt ein Gerücht …« Einen Tag später konnte man lesen: »Es ist nur ein Gerücht, aber …« In der nächsten Ausgabe stand da: »Ich verabscheue es, Gerüchte weiterzugeben, nur …« Bald konnte man lesen: »Es ist besser auszusprechen, was man weiß, als sich in Andeutungen zu ergehen …« Schließlich stand im Daily News nach einem nachdenklichen Schlenker über die zunehmende verbale Verrohung und die bedenkenlosen Verletzungen der Privatsphäre im Boxsport: »Barrence Rooney ist schwul. Sagt Pico.« – Maybelle sorgte dafür, daß Barrence die Blätter zu sehen bekam.
Der dritte Kampf zwischen Barrence Rooney und Tony Pico fand im Madison Square Garden statt. Als Pico durch die Gasse kam, rief er mehrere Male zum Ring hinauf, wo Rooney bereits auf ihn wartete: »Maricón! Maricón!« Und als sie sich vor dem Gong dicht gegenüberstanden und in die Augen starrten, formten Picos Lippen noch einmal lautlos das Wort nach.
In der zwölften Runde brach der Ringrichter den Kampf ab. Pico hing in der Ecke, die Arme über den Seilen. So hatte er nicht fallen können. Achtzehn Schläge, von oben nach unten geführt, trafen seinen Kopf, ohne daß er die Hände hätte heben können, um sich zu wehren. Er erlangte das Bewußtsein nicht mehr. Zehn Tage nach dem Kampf starb Tony Pico.
»Wie lange ist das her?« fragte ich.
»Siebeneinhalb Jahre.«
»Und was tut Barrence Rooney jetzt?«
»Das weiß ich nicht genau. Er lebt nicht mehr in New York, habe ich gehört.«
»Boxt er noch?«
»Nein. Bestimmt nicht mehr.«
Nach einer Weile fragte ich: »Und deshalb die Buße?«
»Ich verstehe nicht, was du meinst?« sagte Maybelle.
»Abe hat mir erzählt, du hast dir eine Buße auferlegt.«
»Abe! Nonsens!«
»Nicht, daß du glaubst! Abe hat mir die Geschichte nicht erzählt. Er hätte es gern. Aber er hat es nicht.«
»Abe hat mich gern gehabt. Aber diese Geschichte hat er nicht gern gehabt. Er hat vom Boxen keine Ahnung gehabt. So etwas passiert eben. Erst letztes Jahr im Bantamgewicht – Lupe Pintor gegen Johnny Owen. Oder ebenfalls knapp vor einem Jahr – Ray Mancini gegen Duk Koo-Kim. Oder vor zehn Jahren Griffith gegen Paret. So etwas passiert. In Vietnam sind viel mehr, viel, viel mehr junge Männer erschossen worden, und noch einmal so viele haben sich das Leben genommen, nachdem sie zurückgekehrt sind. Die Schwarzen sind erschossen worden, die Weißen haben sich das Leben genommen. Ja, ich kann’s mir vorstellen, wahrscheinlich hat sich Abe gedacht, ich sollte mir eine Buße auferlegen. Könnte das sein, Luke?«
8
Im November war es, Anfang November, da sah ich im Büro der ACE in einer der Musikzeitschriften, die dort herumlagen, ein Bild von Attila Zoller. Darunter stand, er lebe in Vermont, in einem Ort namens Townshend. Ein lächelnder Mann, der kaum noch Haare auf dem Kopf hatte und der diese Gitarre mit der merkwürdigen Kopfplatte in den Armen hielt, an die ich mich noch sehr gut erinnern konnte. Der erste große Rivale meines Vaters! Vielleicht sein einziger. Der Freund, der mir, als ich gerade acht war, das Duwort angeboten hatte, als wäre ich seinesgleichen. Ich bat die Sekretärin, mir seine Telefonnummer herauszusuchen. Ich hatte Glück, er war gleich am Apparat. Ich sprach deutsch. Fragte, ob ich richtig sei – bei dem Attila Zoller. Noch ehe ich meinen Namen genannt hatte, sagte er: »Auf die Gefahr hin, daß ich mich blamiere: Kann es sein, daß du Georg Lukassers Sohn bist?«
Ich überredete Maybelle, mit mir nach Vermont zu fahren. Erst wollte sie nicht. Ich hielte mich nicht an unsere Vereinbarung, sagte sie. Eine Zeitlang hatten wir uns nicht gesehen, hatten nicht miteinander telefoniert.
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