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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Eines Nachts klickte ein Steinchen an mein Fenster.
    »Schön«, sagte ich, »nun gilt unsere Vereinbarung nicht mehr.«
    »Du hältst dich nicht daran«, antwortete sie prompt, »eine Vereinbarung gilt nur, wenn sich beide Seiten daran halten.«
    »Aber du«, sagte ich, »du hast das Steinchen geworfen!«
    Und Maybelle: »Ich halte mich innerlich daran, du nur äußerlich.«
    Wir besuchten Attila, blieben zwei Tage. Wir machten Musik. Spielten Back Door Man , ich am E-Baß, Attila an der Gitarre, Maybelle hat gesungen – Attila hat die Aufnahme mitgeschnitten, ich habe sie, während ich dies schreibe, vor mir liegen. Am dritten Tag fuhren wir gegen Abend los. Mehr weiß ich nicht. Als ich aufwachte, lag ich im Memorial Hospital von Brattleboro. Mein Becken war zertrümmert. Maybelle war tot.
    Frau Mungenast berichtete, daß die Buben, die bald nach Dreikönig angefragt hatten, ob sie den abgeschmückten Christbaum haben dürfen, auf dem Stoppelfeld vor dem Dorf einen großen Reisighaufen aufgeschichtet hätten, den sie zum Abend hin anzünden wollten; was ihnen auch erlaubt worden sei; die Frau an der Kasse beim ADEG habe gesagt, wer weiß, vielleicht entwickle sich ja ein neuer Brauch daraus. Carl wollte, daß ich ihn am Abend zu den Feldern schiebe, er könne sich das Feuer nicht entgehen lassen, sagte er. Er dürfe ja nicht hoffen, noch lange genug zu leben, um die Frühlingsfeuer um Ostern herum zu riechen. Er sei bereit, als erster diesen neuen Brauch zu akzeptieren. Gleich aber fragte er mit einem erschrocken besorgten Blick zu mir: »Würdest du deine Geschichte gern vor einem Reisigfeuer im Freien zu Ende erzählen wollen?«
    »Nein«, sagte ich, »diese Geschichte nicht.«
    »Dann müssen wir auf das Feuer verzichten«, wandte er sich an Frau Mungenast. »Gehen Sie, und stellen Sie sich in den Qualm, ich werde an Ihrem Mantel schnuppern.«

Zwölftes Kapitel
1
    Maybelle sei am Steuer gesessen. Ich erinnerte mich nicht. Becky erzählte es mir. Sie hatte es von der Polizei. Ein entgegenkommender Wagen habe uns gerammt. Der Fahrer wurde dabei schwer verletzt; er war betrunken. Becky erzählte, ihre Mutter sei auf der Stelle tot gewesen. Es könne sich gar nicht anders zugetragen haben, hatte ihr die Polizeibeamtin erklärt, die wenige Minuten nach dem Unfall zusammen mit ihrem Kollegen am Unfallort eingetroffen war. »Mum hat nicht gelitten«, sagte sie. Sogar in meinem benebelten Zustand erschien mir das wie eine allgemein anerkannte Formel dafür, daß jemand eben doch gelitten hatte.
    Becky hielt meine Hand, während sie sprach. Sie hatte sehr rote lange Fingernägel; vielleicht waren sie ja aufgeklebt und aus Kunststoff; man kriegt das nicht hin, daß echte Nägel bei dieser Länge gerade bleiben. Sie habe mir das alles bereits erzählt, sagte sie mit sanfter, empathischer Stimme; zweimal sogar habe sie es erzählt; beim erstenmal sei Gil dabeigewesen. Ich konnte mich an nichts erinnern. Und wer Gil war, fiel mir auch erst nach zwei, drei Atemzügen wieder ein. Gil sei nur einen Tag in Brattleboro geblieben, sei gleich wieder zurück nach New York gefahren, mit dem Bus, um alles für die Beerdigung zu organisieren.
    »Man glaubt es ihm nicht«, sagte sie und lächelte dabei. »Weil er ein Boxtrainer ist und einen Gym besitzt, meinen die Leute, er muß auch gut trainierte Nerven haben.«
    Und dann weinte sie.
    Daß ich mich an nichts erinnern könne, sei ein großer Vorteil für mich, klärte mich einer der Ärzte später auf, und ein zweiter Arzt sagte das gleiche; so würden mir posttraumatische Komplikationen vielleicht erspart bleiben. Was sie damit meinten? Belastungsstörungen wie Angstzustände, Depressionen und so weiter. Was sie mit »und so weiter« meinten? Sprachstörungen, Schlafstörungen, motorische Störungen – ein weites Feld, bei jedem anders, der Mensch ist verschieden.
    Der Fahrer, der den Unfall verursacht hatte, sei auch hier, sagte Becky. Er liege im Koma. In welchem Zimmer wisse sie nicht. Das werde vor den Angehörigen des Opfers geheimgehalten. Auch den Namen kenne sie nicht. Der werde ihr auf alle Fälle mitgeteilt, irgendwann, nur jetzt noch nicht. So jedenfalls habe sie die Beamtin verstanden. Sie hoffe, daß der Mann nicht mehr aufwache. Nicht, weil sie ihm den Tod wünsche, bestimmt nicht. Er sei so schwer verletzt, daß er wahrscheinlich nie mehr richtig werde. Das habe ihr ebenfalls die Polizistin verraten. Eigentlich dürfe sie das ja nicht. Sie habe es gesagt, um sie zu

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