Abendland
unwahrscheinlich, daß wir jemandem begegneten. Alles um uns herum dehnte sich aus zu unserem Revier. Wir verbrachten den Tag damit, hierhin und dorthin zu gehen, ein Stück nach oben und wieder zurück und in eine andere Richtung, als würden wir unseren Besitz betrachten, allein mit der Absicht, uns seiner zu vergewissern. Wir setzten uns an einen Stein, rauchten, aßen, tranken, wanderten weiter und kehrten wieder um. Den Gipfel haben wir nicht bestiegen, aber das spielte keine Rolle, und geredet haben wir auch nicht viel. Gegen fünf Uhr erreichten wir die Pension. Wir waren zu erschöpft, um etwas zu essen, legten uns auf die kurzen Betten und waren dahin.
7
Mitten in der Nacht erwachten wir. Unsere Vermieterin hatte sich, während wir schliefen, in unser Zimmer geschlichen, oder sie hatte ihre Tochter geschickt, jedenfalls standen auf dem Tisch ein großer Teller mit Wurst- und Käsebroten, ein Korb mit Äpfeln und eine Flasche Wein und für mich ein Krug mit Milch. Wir nahmen die Sachen mit hinaus auf den Balkon, hüllten uns in unsere Federbetten und schauten in den Sternenhimmel, der Maybelle so unwahrscheinlich vorkam.
»Ich weiß eine Geschichte für dich«, sagte sie, nachdem sie lange geschwiegen hatte, »und wenn du willst, daß ich mich freue, Luke, schreib sie irgendwann nieder, und schreib dazu, Maybelle Houston habe sie dir erzählt.«
Eines Tages – erzählte Maybelle – sei ein junger Mann in Gil’s Gym aufgetaucht, der sei erst vor wenigen Monaten zusammen mit seinen Eltern von den Virgin Islands nach New York gekommen. Sein Name war Barrence Rooney, und alles, was er sich unter dem Glück vorstellte, hatte mit Boxen zu tun. Er sah nicht aus wie ein Boxer und verhielt sich nicht wie die, die Maybelle kannte und die meinten, sie müßten immer und überall bedrohlich wirken, sogar wenn sie sich bei ihr die Termine für ihr Training, die Rezepte für ihre Pillen und die Zuschüsse für ihre Mieten abholten.
Gil war nach dem ersten Augenschein dagegen, Rooney in seinen Gym aufzunehmen; er passe nicht zu den anderen, sagte er, er sei zum Beispiel einfach zu hübsch, er unterscheide sich zu deutlich von Mike und Will und Butcher und Professor Smith und den Brüdern Jack und Ruff Dover. Maybelle gab nicht auf, sie traf sich jeden Tag mit Barrence im Fort Greene Park, und jeden Mittag am Tisch ihres Schwiegersohnes schwärmte sie von dessen Fähigkeiten, seiner intuitiven Intelligenz, seinem Sinn für boxerische Dramaturgie, seinem »diamantenen Ehrgeiz«. – Schließlich gab Gil seinen Widerstand auf. »Man hört ja Sagenhaftes von dir«, begrüßte er seinen neuen Mann.
Tatsächlich bestand Rooneys Stärke in seiner Schnelligkeit und seiner Phantasie, die ihn unberechenbar erscheinen ließen. Aber Maybelle sah auch seine Schwäche: Er schlug zu wenig hart zu, er hatte keinen Punch. Für die anderen Boxer in Clancys Gym war er »Mr. Dragonfly«, hübsch und flink, aber, unter dem Strich zusammengerechnet, harmlos. Es war durchaus kein Vorteil für ihn, daß er von Maybelle protegiert wurde; hinter ihrem Rücken nannten sie ihn »mother’s little cookie«.
Nach zwei Jahren sah Rooneys Gesicht immer noch zart und mädchenhaft aus, aber er hatte alle im Club, die über ihn das Maul verrissen hatten, hinter sich gelassen. Er war Clancys Bester. Er hatte dreiundzwanzig Kämpfe absolviert, siebzehn gegen Aufbaukämpfer, aber immerhin sechs gegen echte Gegner. Alle Kämpfe hatte er gewonnen – alle nach Punkten, nicht ein K.-o.-Sieg war darunter. Er habe zu wenig Wut in sich, war Gils Theorie. Er sei zu schnell, darum kriege er nie etwas ab. »Warum also sollte er eine Wut haben?«
Dann gewann Rooney das Golden-Gloves-Turnier von New York, und Gil stellte beim Boxverband den Antrag, und dem Antrag wurde stattgegeben, und Barrence forderte den amerikanischen Meister im Weltergewicht heraus: Tony Pico.
Pico war das Gegenstück zu Rooney – ein Schläger, wenig Technik, große Distanz. Die Presse beklagte an seinem Beispiel den ästhetischen Niedergang des Boxsports. Den Zuschauern gefiel er. Er stand im Ring wie angeschraubt, steckte alles ein, was auf ihn niederprasselte, und teilte aus. »Kein Kampf ohne Blut!« – damit prahlte sein Manager bei den Pressekonferenzen. Der Kampf fand wenige Tage nach Barrence’ dreiundzwanzigstem Geburtstag statt, und er endete mit seinem Sieg. Pico hatte seinen Gegner unterschätzt. In der Pressekonferenz danach log Picos Trainer, sein Mann sei in einem
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