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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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– bezahlt, vielleicht sogar alles. Er schaut dazu, hat er versprochen. Vorläufig bist du auf jeden Fall bei uns. Sonst müßtest du in eine Rehabilitationsklinik. Hier bleiben kannst du nicht, hat Dr. Miller gesagt.«
    Eine Minute lang war ich mir nicht sicher, ob ich einen Mr. McKinnon kenne, und wer Dr. Miller war, hatte ich keine Ahnung.
    Drei Wochen würde ich auf alle Fälle Ruhe geben müssen, dürfe aber im Rollstuhl herumgeschoben werden, damit ich etwas von draußen sähe, das sei für die Genesung wichtig. Für den Kopf vor allem sei es wichtig. Dr. Miller befürchtete, ich könnte in Schwermut verfallen. Das entspräche der Norm. Becky solle sich auf alle Fälle nach einem Psychotherapeuten umsehen. Sobald ich die ersten Schritte tun könne, müsse ich mich außerdem einer intensiven physiotherapeutischen Behandlung unterziehen. Man werde versuchen, erst mit einem Gehbock, dann mit Krücken mir den Gebrauch meiner Beine wieder beizubringen. »Das organisiert alles Gil«, sagte Becky. Nach sechs Monaten, wenn es keine Komplikationen gäbe, sei ich wiederhergestellt.
    »Was ist mit Maybelle?« fragte ich.
    »Mum ist tot«, sagte Becky, und wie sie es sagte, ziemlich genervt nämlich, erschrak ich, weil mir in diesem Augenblick endgültig bewußt wurde, daß mir die gleiche Frage schon mehrere Male beantwortet worden war. Nun würde ich nicht mehr fragen.
2
    Gil und Becky überließen mir ihr Schlafzimmer, es lag im zweiten Stock des Hauses, die Fenster zeigten in einen kleinen Innenhof, der von Efeu zugewuchert war. Sie selbst schliefen für die Zeit meines Besuchs in dem Anbau, in dem Maybelle gewohnt hatte. Becky meinte, es würde mir »bestimmt zu fest weh tun«, in Maybelles Bett zu schlafen. Daraus schloß ich, daß sie wußte, daß ich schon einmal hiergewesen war. Ich war eigentlich davon ausgegangen, daß Maybelle mit ihrer Tochter ebensowenig über mich sprechen würde, wie sie mit mir über Becky sprach. Daß sie eine Tochter habe, deren Vater beim Verschieben von Güterwaggons ums Leben gekommen sei – das hatte sie erzählt, mehr nicht. Ein paarmal hatte ich weitergefragt, aber sie hatte keine Antwort gegeben. Sie wollte ihre Familie aus unserem Verhältnis heraushalten. Ich hatte das respektiert. Daß sie dagegen alles wissen wollte, was mit Dagmar und mir und meinem Sohn zu tun hatte, und auch alles über meine Mutter, darin sah ich keinen Widerspruch, zumal ich gern erzählte und es ja doch in erster Linie für mich tat – eigentlich um Heimweh-Dampf abzulassen. Becky und Gil wußten alles über mich und Maybelle; daß wir auf halbem Weg nach Texas umgekehrt waren, weil wir uns gestritten hatten; daß wir zusammen in Europa gewesen waren; auch daß unsere erste Liebesnacht im Hudson Valley in einem türkisfarbenen Motel in der Nähe von Hyde Park stattgefunden hatte, wußten sie; auch, daß ich Maybelles Ehre vor einem Rassisten hatte retten wollen; sogar über den Vorfall auf dem Platz hinter der Hühnerbraterei, als mir ein Bursche ein Feuerzeug an den Kopf geworfen und Maybelle sich aus der Sache herausgehalten hatte, wußten sie Bescheid – und daß ich verheiratet gewesen war und einen Sohn hatte und daß mein Vater sich das Leben genommen hatte und daß ich Schriftsteller war und an einer Universität in West-Germany eine Sprache studiert hatte, die niemand auf der Welt mehr spricht. Aus Beckys Mund klang das alles nach einer filmreifen Romanze in Schwarzweiß (!), und ich fragte mich, ob sie selbst sich das so zurechtlegte oder ob Maybelle tatsächlich in dieser Art über uns gesprochen hatte – was ich mir nicht vorstellen konnte, dazu hätte ich – wieder einmal! – mein Bild von ihr übermalen und neu aufsetzen müssen.
    Übrigens: Becky war nicht dick, sie war schwanger, im sechsten Monat. Sie war eine überaus gut aussehende, gepflegte, stets effektvoll gekleidete Frau um die Dreißig – gerade zwei Jahre jünger als ich –, sehr groß – sie überragte ihren Mann um gut einen halben Kopf –, die jeden Tag ein anderes Parfüm auflegte – Veilchen, Patschuli, Maiglöckchen und etliche Düfte, die ich nicht beim Namen kannte.
    Und, wovon mir Maybelle nie erzählt hatte: Gil und Becky hatten bereits ein Kind. Ein Mädchen im Alter von fünf Jahren. Wanda. »Wanda-May« wurde sie gerufen, weil sie der Liebling ihrer Großmutter gewesen war. Ich lag bereits seit drei Tagen im Schlafzimmer der Clancys, als ich Wanda kennenlernte. Die Tür ging auf, ich dachte, es sei Becky

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