Abendland
Mann ein schönes Gesicht hat.«
»Nein, das weiß ich nicht!«
Maybelle wechselte abrupt das Thema. Las die Namen von den Grabsteinen. Phantasierte komische Lebensgeschichten zu den Gräbern, und Barrence ließ sich ablenken und lachte sogar. Und plötzlich fragte sie: »Warum wollen die Boxer eigentlich nicht, daß eine Frau im Gym ist?«
»Aber du bist doch in unserem Gym.«
»Aber das stört die meisten.«
»Mich stört es nicht.«
»Ich habe mich schon immer gefragt«, fuhr Maybelle fort, »warum wollen Boxer unbedingt untereinander allein sein. Auf alle Fälle ohne Frauen. Und sie mögen auch nicht, daß ihnen eine Frau zusieht bei dem, was sie tun. Warum?« Sie blieb stehen und blickte gerade in das fremde, monströse Gesicht hinein. »Kennst du schwule Boxer, Barrence?«
Barrence reagierte, wie sie es erwartet hatte. Er regte sich so sehr auf, daß eine der Nahtstellen über der linken Braue aufplatzte und das Blut über die beiden Wülste des Auges rann. Sie beruhigte ihn, aber mit Worten, die ihn noch mehr in Rage brachte. Sie habe doch nicht ihn, Barrence, gemeint, im Gegenteil, sie habe ihn immer, wenn irgendeiner diesbezüglich eine Andeutung habe fallenlassen, verteidigt.
Alle Farbe sei aus seiner Fratze gewichen, und er habe sie angeschrieen: »Wer sagt so etwas über mich? Wer? Ich will das wissen!«
In den folgenden Tagen stieß Maybelle immer wieder in diese Wunde, ohne allerdings jemals konkret zu werden.
»Ich gebe dir ein Beispiel«, erzählte sie mir. »Wir saßen in der Küche, Gil und ich, und Barrence kam zur Tür herein. Gil saß einfach nur auf seinem Sessel, hatte von nichts eine Ahnung und paffte an seinem Brasilstumpen, und da nahm ich ihm die Zigarre aus dem Mund und drückte sie im Aschenbecher aus. Weiter brauchte ich nichts zu tun. Für Barrence stellte sich die Sache so dar: Er war der Anlaß, daß hier etwas unterbrochen wurde. Er schloß, ohne sich dessen bewußt zu sein, von der ausgedrückten Zigarre auf ein abgebrochenes Gespräch. Es ist wahnsinnig aufregend zu sehen, wie einfach so etwas funktioniert. Er dachte sich: Ich soll nicht wissen, worüber die beiden reden. Also reden sie über mich. Und was reden sie über mich?«
Barrence lauerte ihr auf. Einmal drückte er ihr die Arme an den Körper, daß sie schreien hätte wollen. »Wer sagt was über mich! Wer sagt was über mich!« Er verlangte, daß sie ihm einen Namen nenne. Den Mann zeige, der so über ihn rede.
»Wie redet wer über dich?« fragte sie scheinheilig. »Was soll irgendeiner über dich sagen? Was? Ich weiß nicht, was du meinst, Barrence.«
Er konnte es nicht einmal aussprechen.
Er bilde sich das alles nur ein, sagte sie kalt, man könne ja meinen, es bestehe ein Grund, daß er sich so aufrege.
Es kam vor, daß Barrence sie anschrie, sie eine Lügnerin nannte und schluchzte und flüsterte, sie solle ihm bitte, bitte endlich sagen …
Nach Tagen »gestand« sie ihm, daß es tatsächlich Gerüchte gebe. Und daß diese Gerüchte aus der Umgebung von Toni Pico und seinem Manager James Ratliff I. stammten. Der Haß war bereits aufgegangen. Sie sagte nicht, was für Gerüchte, nur daß es welche gebe. Das allein bewirkte, daß Barrence die Holzfüllung zu Maybelles Kleiderschrank mit einem einzigen Faustschlag zertrümmerte.
Barrence Rooney tauchte wieder im Gym auf, spannte sich in die Bizeps- und Trizepsmaschinen ein, schlug den Punchingball und den Sandsack.
»Er will noch einmal gegen Pico antreten«, sagte Maybelle zu Gil.
»Hat er das genau so gesagt?« fragte der.
»Ja, genau so«, log sie. Und daß Gil beim Wohlergehen ihrer Tochter Becky ihm versprechen solle, daß er mit seinem ehemals besten Boxer trainieren werde, wie er noch nie mit einem Boxer trainiert habe.
»Pico wird es nicht wollen«, sagte er, »und der Boxverband wird es erst gar nicht erlauben.«
Aber Gil täuschte sich. Der Boxverband drängte sogar darauf, daß Rooney noch einmal gegen Pico antrete. Damit bewiesen würde, daß der erste Kampf nicht geschoben war. Und James Ratliff I. dröhnte, man habe wirklich nichts gegen eine dritte Begegnung.
Maybelle verabredete sich mit dem Sportjournalisten Norman Corcoran, der schrieb Kommentare zu Boxkämpfen in The Ring und in Sports Illustrated und hatte eine eigene Kolumne in Daily News . Er wußte, daß Maybelle bei Clancy den Laden organisierte. Er kannte sie flüchtig, war einmal im Gym gewesen, und nach allem, was er so über sie gehört hatte, hatte er eine hohe
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