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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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trösten, das sei ihr schon klar, sagte Becky. »Sie denkt, ich wünsche ihm den Tod, weil er meine Mum getötet hat. Aber ich wünsche niemandem den Tod. Und ich wünsche ihm auch nicht, daß er ein Krüppel wird oder nicht normal im Kopf. Wahrscheinlich wird er sterben.« – Da wußte ich bereits nicht mehr, von wem Becky sprach.
    Ich erinnerte mich in den ersten zwei Tagen nicht einmal daran, daß Maybelle und ich in Townshend bei Attila Zoller gewesen waren. Nicht einmal, daß wir aus New York weggefahren waren. Als mir der Arzt – bereits zum wiederholten Mal – sagte, ich läge im Memorial Hospital in Brattleboro im Bundesstaat Vermont, hatte ich keine Ahnung, wie ich hierhergekommen sein könnte, und erst mußte ich sogar überlegen, was Vermont sei, und als mir das einfiel, wo es liege. Ich fühlte mich, als wäre ich zu Hause, das hieß für mich, in Wien; vielleicht sogar, als wäre ich noch nicht vierzehn. Daß es in meinem Leben einen Menschen gab, der Maybelle hieß und den ich liebte, war in dem engen Raum, den der Schock mir gelassen hatte, als Gedanke für eine kleine Frist der Gnade nicht zugelassen. Ich hätte Deutsch mit ihm gesprochen, erzählte mir der Arzt später. Die retrograde Amnesie werde allmählich nachlassen, mein Gedächtnis werde sich Schritt für Schritt an den Moment des Aufpralls herantasten, aber kurz davor doch zurückschrecken, irgendwelche Bilder freizugeben. Und so werde es bleiben für immer. Ich fühlte mich gut. In der Mitte des Körpers spürte ich ein dumpfes Zerren, wenn man es so nennen kann, eine hintergründig schmerzhafte Schwere, die mich sanft, aber bestimmt ins Bett drückte. Zugleich erzeugte dieser Schmerz in mir das angenehme Gefühl, keine Rechenschaft ablegen zu müssen – über mich nicht und auch über sonst nichts, auch nicht über meine Gleichgültigkeit allem Menschlichen gegenüber. Mein rechtes Bein pochte; es war in eine Vorrichtung gebettet, an deren Ende Gewichte hingen. Im Gesicht spürte ich ein feines Stechen, als würde ein Nadelkissen auf Stirn und Wangen gepreßt; das rühre von Splitterverletzungen her, harmlos. Die Braue über meinem rechten Auge war aufgerissen und gequetscht worden und habe genäht werden müssen. Dort würde mir eine kahle Stelle bleiben und eventuell eine schmale, attraktive Narbe zur Stirn hinauf. In meiner linken Armbeuge steckte eine Infusionsnadel, über die sickerte Morphium in mein Blut.
    Am zweiten Tag nach meiner Operation begann ich zu fragen. Ich fragte Becky, wer sie sei. Die Ärzte hatten sie aufgeklärt, daß Patienten wie ich irgendwann anfangen, ihre Umgebung zu interviewen; daß sie die Antworten aber sofort wieder vergessen. Das dauere einen Tag oder zwei. Plötzlich setze das Begreifen ein. Das hieß, ich begriff, daß Maybelle tot war.
    »Woher weißt du, wer ich bin?« fragte ich Becky.
    »Mum hat es mir erzählt«, sagte sie. »Sie hat mir erzählt, du bist der liebste Mann, den sie nach meinem Vater kennengelernt habe.«
    Trotz des seligen Gifts, das über meinen Arm in mein Gehirn floß und mich mit allem einverstanden sein ließ, glaubte ich ihr nicht, und ich dachte, so hätte Maybelle nie gesprochen, und auch diese Frau hier würde nicht so sprechen, wenn sie sicher wäre, daß ich bereits über dem Berg sei. Becky war groß und ein bißchen dick und nicht so dunkel, wie ihre Mutter gewesen war. Wie eine Komikerin kam sie mir vor; wahrscheinlich, weil ihr Mund so voluminös und beweglich war; wie der Mund von Rotkäppchens Großmutter. Sie strömte einen linden Veilchenduft aus.
    »Nach zehn Tagen kannst du das Krankenhaus verlassen«, sagte sie. »Gil und ich werden dich abholen. Du wirst bei uns wohnen, bis du wieder gehen kannst.«
    »Kann ich nicht gehen?«
    Der Arzt erklärte es mir anhand eines Modells: Beim Aufprall war ich auf dem Beifahrersitz nach vorne gerutscht und mit dem rechten Knie gegen die Ablage unter dem Armaturenbrett gekracht. Durch die Wucht war der Oberschenkel wie ein Rammbock in das Hüftgelenk gestoßen worden; das hatte sich verrenkt, und die Gelenkpfanne war zerborsten. Die Schalen der Beckenknochen mußten bei der Operation erst wieder in die richtige Position gebracht und mit einer Platte und mit Schrauben stabilisiert werden.
    »Und mach dir keine Sorgen wegen des Geldes.«
    »Muß ich mir Sorgen machen?«
    »Mr. McKinnon – an den erinnerst du dich, oder? – hat gesagt, ein Teil wird auf alle Fälle von der Vereinigung – ich habe jetzt den Namen vergessen

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