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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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gewesen waren, vielleicht waren sie Mitglieder der African Methodist Episcopal Church gewesen – dieser Richtung hatte, soweit ich mich an Maybelles Erzählung erinnerte, jener Michael Jeremias Vincenc angehört, der sie in ihrer Jugend verdächtigt hatte, die Biographie über die Autorin von Onkel Toms Hütte stehlen zu wollen. Ich hatte beim Eingang keinen Hinweis, die christlichen Unterabteilungen betreffend, gefunden. Hier waren nur: Schnee, Steine und Himmel.
    Der Himmel war klar, die Sonne blendete, eine eisige Brise strich vom Meer herauf, blies die Nase frei von allen NYC-Gerüchen. Vor mir wölbte sich der Friedhof zu einem sanften Hügel nach Westen hin. Über dem East River – den ich nicht sehen konnte – setzten sich die Grabsteine in den Wolkenkratzern von Midtown fort – im Riesenpult des Citicorp Centers, im Trump Tower und den Türmen von Radio City, dem Chrysler Building und dem Hyatt Hotel, in der Tafel des UNO Gebäudes direkt gegenüber am Ufer des Flusses, im Seagram Building und endlich, die Stadt überragend wie Zeltstangen, im Empire State Building und im Süden hinter dem Downtown Financial District in den Twin Towers des World Trade Centers. Ich erinnerte mich, daß ich in den ersten Tagen in New York von der Plattform des Empire State Building auf Manhattan hinabgeblickt hatte und mir die Insel wie ein gigantischer Friedhof erschienen war; und nun bestätigte sich dieser Eindruck in der Umkehrung des Vergleichs: nicht Manhattan war wie ein Friedhof, sondern der Friedhof war wie Manhattan. Und plötzlich wurde ich vom Glück emporgerissen. Die Arme flogen mir in die Höhe mitsamt den Krückstöcken, und mit ihnen hob ich mein ganzes Wesen empor. Liebe und Dankbarkeit drängten in mir nach oben und brachten eine unbändige Lebenslust, eine Überlebenslust und Sehnsucht mit sich. Ich will: erstens aus dem Morphium aussteigen und trainieren, trainieren, trainieren; zweitens mit dem Biertrinken aufhören; drittens mit dem Rauchen aufhören. Ich will: viertens diese Stadt verlassen und nie mehr hierher zurückkehren; fünftens zuvor noch meine Serie beenden (d.h. noch drei double-tales schreiben, insgesamt würden es also fünfzehn sein, nämlich genauso viele, wie geplant waren; und daß ein Mann aus Hinckley, Illinois, drohte, sein Zeitungsabonnement zu kündigen, würde mich nicht daran hindern, diesen Plan einzuhalten); sechstens ein neues Buch anfangen, einen Roman, in dem alles erfunden sein würde (das Wort »Roman« trieb mein Glück in eine Höhe, wie ich sie glaubte noch nie mit meinen Gefühlen bezwungen zu haben). Ich will: siebtens auf absehbare Zeit allein bleiben, mich nicht mehr in einen neuen Menschen verlieben, auf alle Fälle die Nächte allein verbringen und lesen, lesen, lesen ( Krieg und Frieden , Auf der Suche nach der verlorenen Zeit , Der Mann ohne Eigenschaften , Joseph und seine Brüder , Die Brüder Karamasow , noch einmal Nostromo , Tom Jones , Wilhelm Meister , Der grüne Heinrich … – Alles, nur keinen Faulkner, keinen Dos Passos, keinen Nathanael West, keinen Flannery O’Connor, keinen Hemingway, keinen Mailer …). Ich will: achtens David und Dagmar einen Brief schreiben, Carl einen Brief schreiben, meiner Mutter einen Brief schreiben. Neuntens wollte ich nach Hause, und damit meinte ich: nach Wien, zurück nach Wien. Ich fühlte mich, als wäre ich aus dem Gefängnis – eigentlich aus dem Fegefeuer – entlassen; und ich wußte, daß ich das Andenken an Maybelle, die nur wenige Stiche unter meinen Füßen lag, damit sehr, sehr kränkte, aber so war es eben: der Brand dieses vorhöllischen Feuers in meinem Rücken breitete sich exakt über die Zeit aus, in der wir beide ein Paar gewesen waren. Ich ließ dieses Gefühl durch mich hindurchziehen. Ohne mit mir zu hadern. »Im Anfang Seligkeit, dann Schattentrauer.« So heißt es in Shakespeares 129. Sonett.
    Einmal in der Woche kam Sarah Jane, um mit mir meine neuen Texte zu korrigieren. Auch Dr. Kupelian besuchte mich in meinem Zimmer in The Best of Chicken Bones – ein dünner, großer Mann mit einem blassen Gesicht, der einen eleganten Dreiteiler aus grauem Flanell trug und dazu schwarzweiße Cowboystiefel und der in nonchalanter Art über meine Zukunft sprach, als wäre sie rechtlich verpflichtend als eine glückliche von Marti Lipman garantiert. Tatsächlich brachte er einen Vertrag mit. Ich solle die Sache gut überlegen, sagte er, aber nicht allzulange. Am Abend lasen Mr. Albert und ich die zehn

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