Abendland
mich forschend an, erhob sich seufzend und brüllte zur Tür hinaus seine Befehle.
Jason und Coy, zwei junge Boxer, die eine, laut Gil, große Karriere vor sich hatten, trugen mich samt Rollstuhl durch das enge Treppenhaus hinunter ins Erdgeschoß. Ich fühlte mich von Erzengeln bewacht.
In der Mitte des Raums war der Ring, dreiviertelmannshoch und blau, darüber hingen gleißende Scheinwerfer. Es roch nach Fichtennadeln und Männerschweiß und nach Pferd und Scheuermittel. Jason und Coy stellten mich in eine Ecke, wo ich niemandem im Weg war.
»Wenn es dir zuviel wird, melde dich!« sagte Gil. »Ich laß dich hinauftragen. Nur ein Wort. Aber ich kann dich beruhigen, es sieht schlimmer aus, als es ist. Denk’ einfach, sie tun es freiwillig und gern. Heutzutage wird ja nur gestreichelt. Ich langweile mich mit diesen Burschen zu Tode. Ich bin in der rauhen Ära groß geworden, mußt du wissen – Sugar Ray Robinson, Carmen Basilio, Jake LaMotta, Rocky Marciano, Paul Pender, Willie Pep, Sandy Saddler, Gene Fullmer, Bob Foster, Kid Gavilan.«
»Ich kenne keinen von denen«, sagte ich.
»Rocky Marciano kennst du!«
»Du meinst Silvester Stallone?«
»Der war Rocky Balboa.«
»Und Rocky Marciano war sein Vorbild für die Rolle?«
»Nein, der war das Vorbild für Apollo Creed.«
»Und für Rocky Balboa?«
»Chuck Wepner.«
»Kenne ich auch nicht.«
»Hat vor acht Jahren gegen Muhammad Ali geboxt und fünfzehn Runden durchgehalten.«
»Wußte ich nicht.«
Gil seufzte wieder. »Ich werde den Burschen sagen, sie sollen sich zusammennehmen. Ich werde sagen, ein Schriftsteller schaut ihnen zu. Vor Schriftstellern haben sie großen Respekt. Es kann zwar nur die Hälfte von ihnen lesen und schreiben, aber das spielt keine Rolle. Hauptsache ist doch, daß sie die Buchstaben kennen, die in ihrem Namen vorkommen. Damit wir sie mit ihrer schriftlichen Erlaubnis durch den Fleischwolf drehen dürfen. Jeder weitere Buchstabe wäre doch nur Verschwendung. Sie lesen die Berichte über ihre Kämpfe in der Zeitung und verlieren den Kopf, und niemandem ist gedient, das ist meine Meinung. Lesen ist für einen Boxer die pure Scheiße. Ich werde einen kleinen Kampf für dich arrangieren, Luke, das wird dich ablenken.«
»Wovon ablenken, Gil?«
»Von deiner Trauer, verdammt noch mal!«
Kopfschüttelnd ließ er mich allein.
Das Morphium definierte mir alle möglichen Gefühle, auch solche, von denen ich vorher nichts gewußt hatte (wie das Anabolikum alle möglichen Muskeln eines Bodybuilders »definiert«, von denen er vorher nichts gewußt hat), Trauer jedoch erlaubte es nicht. Ich bin übrigens während des Kampfes eingeschlafen. Mir war, als erlebte ich den Tanz auf dem blauen Quadrat in einer Art Déjà-vu und nicht hier und jetzt vor meinen Augen; die lachenden und brüllenden Gesichter, die dazwischen geschnitten waren, schienen mir vertraut. Als der Gong nach der ersten Runde ertönte, war ich weg.
Ich wußte nicht, wie lange ich dahingedämmert hatte. Ein Riese in einem metallblau glitzernden Mantel mit Kapuze stand vor mir. Er ging breitschenkelig in die Hocke, legte eine bandagierte Hand auf meine Schulter und brüllte eine Freundlichkeit, woraus ich schloß, daß man mich in diesem fensterlosen Bunker für ein wenig schwachsinnig hielt, daß man aber guten Willens war, mich trotz meiner anderen, mindestens ebenso merkwürdigen Eigenschaften – muskelschwach, weiß und nichtamerikanisch – als Mitglied der Familie zu behandeln. Ich war keiner, bei dem es einen Kick brachte, ihn zu verletzen, also haßten sie mich nicht. Auch nicht dafür, daß ich während des Kampfes – oder der Kämpfe – eingeschlafen war. Auch Becky war auf einmal hier, verwirrt, wie mir schien, fragte, wie ich mich fühle, versicherte mir mit tastend artikulierenden Lippen, daß bald alles gut werde. Ich antwortete nicht. Hätte ich sie fragen sollen, was sie unter »bald«, was sie unter »alles« und was sie unter »gut« verstehe? Ich nahm an, sie meinte, ich werde bald eine andere Frau kennenlernen – eine junge, nichtamerikanische, weiße. Mein Kinn und mein Hals bis zu den Schlüsselbeinen hinunter waren naß von meinem Speichel. Ich lebte in einem fremden Land, in einer fremden Stadt, in einem fremden Haushalt, alles kam mir verdächtig vor, und in jedem Augenblick war ich in Gefahr, die Gesetze und Gebräuche der Menschen, unter denen ich lebte und verkehrte, zu verletzen.
Dr. Michaelis, ein schmaler Mann um die Siebzig mit
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