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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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eingefallenen Wangen und feuchten, vortretenden Augen, der Gil’s Gym betreute und jeden Tag nach mir sah, hatte mir geraten, mich möglichst bald aus dem Morphium herauszuschleichen, hatte mir auf einem Blatt Papier einen Ausstiegsplan aufgeschrieben, der sich über drei Wochen erstreckte. Er gab zu bedenken, daß dieses gute Mittel binnen kurzer Zeit zur Sucht führe. Daraufhin hatte ich die Tabletten mit einem Schlag abgesetzt. Aber die Schmerzen waren zu stark, und ich nahm sie wieder. Außerdem gewöhnte ich mir an, Bier zu trinken. Und ich rauchte fast zwei Schachteln Zigaretten am Tag.
    Mr. Albert besuchte mich. Er brachte mir in einem Körbchen frische Donuts mit. Und blieb eine halbe Stunde. Er saß neben meinem Bett, das Gesicht die meiste Zeit abgewandt. Mein Zimmer sei weiterhin mein Zimmer, sagte er. Man habe in der Best of Chicken Bones bereits nach mir gefragt. Er habe gesagt, ich sei auswärts beschäftigt. Ob mir das so recht sei. Becky kam herein, küßte ihn auf die Wange, sagte »Hi, Howie!« und stellte eine Tasse Tee und eine Schale mit Keksen vor ihn auf den Nachttisch und ließ uns wieder allein. Er werde jenen Nachmittag nie vergessen, sagte er. Maybelle habe eine so schöne Stimme gehabt. Als er sich verabschiedete, fragte er, ob er mir meine Schreibmaschine bringen solle. Es wäre gut für mich, wenn ich wieder eine Geschichte schreibe. »Zwei Geschichten«, verbesserte er sich, »Sie schreiben ja immer zwei Geschichten.« Lieber wäre mir die Gitarre, sagte ich. Besser wäre die Schreibmaschine, sagte er. Er hatte sich eine Krawatte umgebunden. Eine schwarze Krawatte zu einem karierten Flanellhemd. Sein freundliches, ernstes Wesen erzählte soviel von Verletzbarkeit und Wehrlosigkeit – dieser Gedanke kam mir zum erstenmal. Ich hatte ihn nie nach seiner Boxervergangenheit gefragt. War er gut gewesen? Was für einen Ruf hatte er gehabt?
    Auch Sarah Jane und Fabian kamen zu Besuch, sie brachten Post mit. Leserbriefe, die von den Zeitungen an mich weitergeleitet worden waren. Ich überflog sie. Sie waren einander ähnlich. Man lobte mich. Man fragte, ob die Geschichten wahr seien. Ein Mann aus Hinckley, Illinois, schrieb, er warte jede Woche sechs Tage lang auf den Freitag, und wenn meine Serie eines Tages zu Ende sein sollte, werde er seine Zeitung abbestellen und mich verklagen (sicherheitshalber hatte er in Klammer gesetzt: »Das war ein Scherz«). Und dann war da ein Brief vom Verlag Marti Lipman. Den reichten mir Sarah Jane und Fabian zuletzt. Fabian flatterte dabei mit den Augenbrauen wie Groucho Marx, und Sarah Jane verstrubbelte mir die Haare. Sie kannten den Inhalt bereits. Ein gewisser Dr. Joseph Kupelian hatte mit Fabian telefoniert. In seinem Brief stellte er sich als Lektor vor und fragte, ob ich mir schon überlegt hätte, meine Musicians zu einem Buch zusammenzustellen. Wenn das der Fall wäre, bitte er mich, es ihn wissen zu lassen; das Haus, das er vertrete, sei nämlich sehr an einer Veröffentlichung meiner Geschichten interessiert.
    Über Weihnachten blieb ich noch bei Becky, Gil und Wanda-May, dann kehrte ich in mein Zimmer im ersten Stock von Mr. Alberts Haus in The Best of Chicken Bones zurück. Ich hätte mich hinknien und den Boden küssen wollen! Nachdem Becky ihren Sohn zur Welt gebracht hatte, rief ich sie an. Ich sagte, sie solle auch Gil und Wanda-May meine Glückwünsche ausrichten. Ich habe sie nicht wiedergesehen – Becky nicht, Gil nicht, Wanda-May nicht, und den kleinen Lawrence habe ich nie kennengelernt.
3
    Im Jänner konnte ich einigermaßen gewandt mit den Krücken umgehen. Ich ließ mich von einem Taxi zum New Calvary Cemetery nach Queens fahren. Mr. Albert hatte mir genau beschrieben, wie ich Maybelles Grab finden würde, und er hatte mir auch eine Kerze in einem roten Glas besorgt. Ich benötigte dennoch fast eine halbe Stunde, bis ich in dem scheinbar willkürlich aufgewürfelten Gräberfeld ihren Stein fand. Es waren zwei Steine. Auf dem einen stand »Maybelle Houston«, auf dem anderen »Lawrence Houston«; sonst nichts, kein Geburtsjahr, kein Sterbejahr, kein Segensspruch. Die Steine waren gleich – quadratisch, nicht höher als ein Knie –, Maybelles war etwas heller, sie standen dicht nebeneinander und ein wenig einander zugeneigt. Ich stellte die Kerze dazwischen und zündete sie an. Ich wußte nicht, welcher Religionsgemeinschaft Maybelle und ihr Mann angehört hatten, ob sie Lutheraner oder Presbyterianer, Baptisten oder Adventisten

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