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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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oder Gil oder einer der Boxer (die allesamt großen Anteil an der Katastrophe nahmen und die einer nach dem anderen mich gleich am ersten Tag besucht hatten und von denen keiner daran Anstoß nahm, daß Maybelle mit einem jungen Weißen zusammengewesen war, der obendrein in einem holpernden und krachenden Akzent redete). Ich richtete mich auf, sah aber niemanden. Ich sagte: »Hallo?« Ein heiseres Stimmchen antwortete: »Hallo, Mr. Luke!« Sie trat neben mein Bett und betrachtete mich eine Weile; ein schmales Geißlein in einem gelben, langärmeligen Kleidchen, das wahrscheinlich ihre Grandma geschneidert und mit roten Rosen an Ärmeln und Saum bestickt hatte. Die Haare waren in engen Zeilen über das Köpfchen geflochten. Ihre Augen blickten ohne Scheu, aber auch ohne allzu große Neugier auf mich. Ihr Gesicht war so rein, als wäre sie erst am Morgen aus dem Backofen Gottes geholt worden. Sie hob und senkte ihre zarten Schultern und verzog den Mund; einiges an mir schien ihr zu mißfallen. Ich konnte es ihr nicht verdenken, mir mißfiel auch einiges, wenn ich an mich dachte. Plötzlich drehte sie sich um und lief zur Tür hinaus; kam aber gleich mit ihrem Puppenwagen zurück. Sie war die Mama von drei Puppen: Monica, Johanna, Helena. Sie fragte, ob ich eine in meinen Armen halten möchte. Ich sagte, gern. Sie gab mir die weiße mit den blonden Haaren. »Hat Grandma das Kleidchen genäht?« Sie nickte. »Und dein Kleid auch?« Sie nickte. »Weißt du, wo Grandma ist?« Sie zuckte wieder mit den Schultern, schüttelte den Kopf und zog ein tiefernstes Gesicht, das deutlich ihrer Mutter abgeschaut war. Am Abend sagte ich zu Becky, ich hätte heute Bekanntschaft mit einer jungen Lady gemacht. Sie rief: »Wanda-May! Ich habe dir doch verboten, Mr. Lukasser jetzt schon zu stören!« Ich aber hatte den Eindruck, wenn es nach Becky gegangen wäre, hätte ich die Kleine gar nie zu Gesicht bekommen. Maybelle hatte sie vor mir verschwiegen, und auch Becky wollte vermeiden, daß ihre Familie meinen Lebenskreisen allzu nahe käme.
    Gil war einer, der nicht viel redete. Er war um die Fünfzig, ein bulliger Mann mit einer Glatze und einem grauen Haarkranz und einem sorgfältig ausrasierten und gestutzten grauen Bart. Er wich meinem Blick aus. Die obere Hälfte seines Gesichts wirkte sehr positiv, kraftvoll und brutal, die untere Hälfte schlaff, hämisch und immer ein bißchen beleidigt. Aus dem, was ihm Maybelle über mich erzählt hatte, schloß er wahrscheinlich, ich sei einer, der gern viel redete. Er wollte mir ein Gespräch anbieten, aus Gastfreundschaft sozusagen. Vielleicht hatte ihn Becky geschickt. Er brachte einen Sessel mit und setzte sich verkehrt herum darauf, stützte die Unterarme auf die Lehne. Er war verlegen, weil ihm nichts einfiel, was er für bedeutend genug hielt, um es einem Schriftsteller vorzusetzen. Ich suchte in seinem Gesicht nach irgendeiner Spur eines großen Themas, einem Fingerabdruck Gottes auf seiner Wange oder seiner Stirn oder seiner eingeschlagenen Nase oder seinem struppigen, verschrumpelten Kinn, der ein Beleg dafür wäre, daß Gott uns alle und zu jeder Zeit in seinen Händen hält, um uns ständig nachzukneten, nachzujustieren, in Form zu halten. Er glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod, dachte ich; er geht davon aus, daß Maybelle für ewige Zeiten verschwunden war. Mir fiel ein, was Maybelle einmal zu mir gesagt hatte, nämlich, daß sie an Jesus glaube und daß es in Brooklyn viele Menschen gebe, die an Jesus glaubten. Ich konnte mir durchaus vorstellen, daß Gil zu denen gehörte; ebenso, wie ich mir vorstellen konnte, daß Maybelle nie an eine Auferstehung, nie an ein Jüngstes Gericht, nie an ein Jenseits geglaubt hatte. Gil bot mir einen seiner Zigarillos an. Solange wir rauchten, waren wir vom Reden befreit. Im Gym unten spielten sie Beethoven, den lieben Tag lang Beethoven. Natürlich die Eroica . Was denn sonst! Was für eine andere Musik würde sich besser als Soundtrack zu einem Boxkampf eignen? Außer: Also sprach Zarathustra – und das war auch tatsächlich die zweite Nummer, die gespielt wurde. Erst Ludwig van Beethoven, dann Richard Strauss, erst Eroica , dann Zarathustra . Die Bruderschaft der Kämpfer dort unten in dem Verlies drehte den Verstärker so weit auf, daß ich diesen pathetischen Bullshit bis in den zweiten Stock hinauf hörte.
    Gil fragte, ob ich Interesse hätte, mir seinen Gym anzusehen.
    »Gern«, sagte ich, »Maybelle hat mir viel erzählt.«
    Er sah

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