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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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das Leben gebracht habe, darüber könne man nur Vermutungen anstellen, sagte Carl; aber das wolle er nicht und könne er nicht, japanische Mystik sei ihm ebenso unzugänglich wie alle andere Mystik auch. Der Grund für diese Tat allerdings sei ihm in Umrissen klar: »Makoto Kurabashi war dahintergekommen, daß Zahlen einen nicht trösten können, daß man mit ihnen keinen Spaß haben kann, nicht über eine ausreichend lange Zeit, daß sie einem nicht zuhören, wenn man sich etwas von der Seele erzählen möchte, etwas Schönes, das man erlebt hat, eine Nacht mit einer Frau zum Beispiel, die beinahe stattgefunden hätte, daß sie weder nach etwas riechen noch nach etwas schmecken, daß man mit ihnen keinen Sex haben kann und daß sie keine Kinder zur Welt bringen.«
    Carl fragte mich, was ich von der Szene auf dem Videoband halte.
    »Ich finde sie abstoßend«, sagte ich und meinte damit, ich finde abstoßend, wie er die Szene kommentierte.
    Er schüttelte den Kopf und ächzte und antwortete, als hätte er meine Gedanken gelesen: »Sag das nicht! Es kränkt mich. Die Zauberwirkung des Abstands bewirkt, daß es beinahe schön ist.« Dann schaltete er mit der Fernbedienung den Fernseher aus.
    Carl hatte Makoto Kurabashi gekannt; mehr noch: er war sein »Entdecker« gewesen. Als Master Sergeant Jonathan C. Cousins von der 11. Luftlandedivision den jungen Mann – Makoto war damals gerade neunzehn – zu Carl in das provisorische Büro gebracht hatte, das für seine Abteilung (in der er der einzige Zivilist war) in einer C-47-Transportmaschine mit Motorschaden auf dem strengbewachten Flugplatz Atsugi bei Tokio eingerichtet worden war (die »Büros« waren mit Decken voneinander abgeteilt, damit, falls es eine Interview- oder Verhörsituation notwendig erscheinen ließ, der Anschein von Diskretion entstehen konnte), hatte Makoto eine lange Nacht hinter sich, in der er die Soldaten mit seinen Rechenkünsten und seiner Fähigkeit, sich auch über den Zeitraum einer Stunde ein Dutzend zwölfstelliger Zahlen zu merken, unterhalten hatte, wofür er von ihnen mit Essen und Trinken belohnt worden war. Mit seinen verstrubbelten Haaren, die er sich, wie er Carl erzählte, mit einer Papierschere selbst geschnitten hatte, sah er wie ein Clown aus; dieser Eindruck wurde durch die zwei schiefen Schneidezähne, die ein wenig vorstanden, noch verstärkt. Er wirkte unkonzentriert und nicht bei der Sache. Das Gegenteil war der Fall; vorausgesetzt, die Sache war seine Sache. Sergeant Cousins meinte, der Bursche könne für Carl interessant sein (später breitete er vor Carl seine Theorie aus, nämlich daß Makoto deshalb so gescheit sei, weil er eine Überdosis von den »Atomstrahlen« abbekommen habe; die Tatsache, daß die beiden Bomben ja nicht über Tokio abgeworfen worden waren, brachte ihn keinen Millimeter von dieser Überzeugung ab). »Ein interessantes Studienobjekt«, genau so drückte sich Sergeant Cousins aus – in Makotos Anwesenheit übrigens, der jedes Wort verstand. »Man hat ihn durch die halbe Stadt hierhergeschleppt, weil es hieß, hier sei ein Professor, der von solchen Abartigkeiten etwas versteht. Sie sind doch Mathematiker? Beweisen Sie, daß das mit rechten Dingen zugeht, was der kann. Sollte es nämlich nicht mit rechten Dingen zugehen, habe ich meine Befehle.« Sergeant Cousins stammte aus Los Angeles, seine Mutter war Mexikanerin, sein Vater Nachfahre von Franzosen. Er war verheiratet und hatte Sehnsucht nach seiner Frau und seinen beiden Söhnen, die gerade erst auf den Füßen zu stehen gelernt hatten – er zeigte Carl Fotos, die Buben sahen darauf aus wie Muster vom kleinen traurigen Elefanten. Hier war er für die Quartiere verantwortlich; seine genaue Funktion werde erst noch definiert. Er ließ sich täglich den Hinterkopf kahl rasieren, das Vlies oben sah aus wie eine zu klein geratene schwarze Kappe; er war breit in den Schultern und an der Brust und schmal überall sonst. Noch vor wenigen Wochen hätte Cousins nicht einen Gedanken an einen Rechenkünstler verschwendet, auch an einen feindlichen nicht; inzwischen aber war so viel geschehen, was auch die Klügsten nicht für möglich gehalten hatten, daß eben vieles andere auch möglich schien, nämlich alles mögliche, und es deshalb ratsam war, jedes gemeldete Unerklärliche mit aller zu Gebote stehenden Vorsicht und militärischen Präzision zu behandeln; das hieß in diesem Fall: Untersuchung durch einen Experten – und so einer war Dr. Jake Candor

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