Abendland
Bedeutung. Carl hielt solche Vorsichtsmaßnahmen für kindisch und nicht angebracht.
Eines Abends aber formulierte Hametner überraschend deutlich: »Angenommen, Candoris, angenommen, ich wäre in der Lage, meinen englischen, französischen und auch amerikanischen Kollegen einen Ratschlag zu geben, in diesem Fall, in diesem Fall würde mein Ratschlag lauten: Sorgt euch nicht! Sie können es nicht.«
Helen litt nicht unter einem so ausgeprägten Verfolgungswahn wie ihr Mann; vorsichtig war sie trotzdem. Carl begleitete sie bei einem Spaziergang durch den Zoologischen Garten. Sie blickte sich andauernd um, schob einen Kinderwagen, in dem ihr und Eberhards zweites Kind, ein Mädchen, lag. Der Bub, inzwischen schon ein Volksschüler, ging neben ihnen her oder lief seinem Reifen nach. Die Kinder hatte sie mitgenommen, um dem Spaziergang einen harmlosen Anschein zu geben. Helen sprach es noch einmal aus – ohne »angenommen«, ohne Konjunktiv:
»Wir wissen, daß Sie Kontakte zu emigrierten Kollegen haben, Carl. Klären Sie diese bitte auf, daß Deutschland nicht in der Lage ist und für lange Zeit auch nicht in der Lage sein wird, Uran in gefährlichem Stil zu spalten. Eberhard wurde gebeten, den Kontakt zum Ausland herzustellen. Er geht davon aus, daß Sie auch mit dem englischen Geheimdienst in Verbindung stehen. Er und seine Kollegen befürchten, daß die Engländer mit Hilfe der Amerikaner Uranwaffen herstellen werden, eben weil sie meinen, Hitler sei bereits im Begriff, die Bombe zu bauen, und daß sie nicht davor zurückschrecken werden, diese neuen Waffen präventiv gegen Deutschland einzusetzen, aus Angst, Hitler werde ihnen sonst zuvorkommen. Was das bedeuten würde, brauche ich Ihnen nicht zu sagen.« Im weiteren nannte sie Details, zeigte sich in einem erstaunlichen Maße kompetent und zitierte Aussagen von Kollegen ihres Mannes, die ihren Bericht überaus glaubhaft erscheinen ließen.
»Von wem wurde Eberhard gebeten, mit mir Kontakt aufzunehmen?« fragte Carl.
»Von den Kollegen, die guten Willens sind.«
»Und nun«, erzählte mir Carl, »nun fand abermals eine Umpolung statt. In mir. In meinem Kopf, weißt du. Wie damals, als mir Hametner geraten hatte, an eine amerikanische Universität zu gehen. Als er gesagt hatte: ›Candoris, seien wir ehrlich, Sie haben gar keine andere Wahl.‹ Und ich deshalb, nur deshalb, nur um – vor allem mir selbst – zu beweisen, daß ich eben doch eine Wahl hatte, Amerika abgesagt und mit meiner Professorin nach Moskau gefahren war. Nun dachte ich: Das Gegenteil ist wahr! Nimm einfach von allem, was er und Helen dir gesagt haben, das Gegenteil! Der Ratschlag an Hametners englische, französische und amerikanische Kollegen mußte also lauten: Sorgt euch! Sie können es! Sorgt euch in höchstem Maße! Sie können es sehr gut, sie sind nahe daran! Hametner ist übergelaufen, dachte ich. Nein, ein Nazi wird er nicht geworden sein, er nicht, dazu ist er zu intelligent; aber er tut bei ihnen mit. Und auch Helen tut bei ihnen mit. Das dachte ich. Und ich konnte ihn verstehen. Auf was alles hatte dieser Mann in seinem Leben verzichtet, nur wegen der Scheißpolitik! Keine Einladung an eine amerikanische Universität, keine seiner Qualifikation entsprechende Stelle in England, Gefängnis und Folter in Rußland, Gefängnis und Folter in Deutschland. Später – viel später, tausend Jahre später –, da war er ein angesehener Bürger der DDR, einflußreiches Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Ordinarius in Leipzig, Lenin-Preisträger, von Helen geschieden, verheiratet mit seiner Sekretärin, irgendwann in den siebziger Jahren erzählte er mir von den Verhören im Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße. Diese Fragen, die man ihm stellte! Sie sollten in eine Anthologie mit surrealistischen Texten aufgenommen werden. Die Beamten hatten ja nicht die geringste Ahnung, was sie einen Kernphysiker fragen sollten, sie hätten aus seinen Antworten nicht erkennen können, was von Bedeutung und geheim war und was belanglos. Es gibt eine verblüffend einfache Methode, doch zum erwünschten Ergebnis zu kommen. Man stellt ihm Fragen wie: ›Was ist Ihrer Meinung nach wichtiger – einen Telefonmast in Indien oder einen Telefonmast in Finnland aufzurichten?‹ Oder: ›Das Blau des Himmels kann bleiben, habe ich recht?‹ Oder: ›War Ostern in diesem Jahr eine Berühmtheit?‹ Und egal, was man antwortet, immer folgt: ›Ich wiederhole: War Ostern in diesem Jahr eine
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