Abendland
Hermann Weyl, Max Born, Richard Courant, Viktor-Moritz Goldschmidt, James Franck, Edmund Landau, Paul Hertz und so vielen anderen schlußendlich in destillierter, das ist: arischer Form noch unterschieden hätte vom Mief der NAPOLA und des BDM). Sie trafen sich bald regelmäßig zum Mittagessen in einem der Restaurants unter den Linden oder zu Kaffee und Kuchen im Kranzler am Kurfürstendamm. Manchmal war auch Jobsts Ehefrau Marianne dabei, die nicht viel redete und den Eindruck vermittelte, als wäre sie immer ein bißchen eingeschnappt. Sie hatte weiche Wangen, ein niedliches Doppelkinn und regimekonforme blaue Augen, flirtete mit jedem Mann, was ihr selbst wahrscheinlich nicht einmal bewußt war, und legte Wilhelm gegenüber, zumal in der Öffentlichkeit, eine Kratzbürstigkeit an den Tag, die verkündete: Nicht ich muß froh sein, daß ich ihn habe, er muß froh sein, daß er mich hat. Carl hatte schon beim erstenmal, als Wilhelm sie zum Essen mitbrachte, das Gefühl, dieser mißbrauche seine Frau zu Zwecken, die ihr nicht einsichtig waren, und er vermutete, einer dieser Zwecke war, ihn, Carl, etwas aufzuweichen, um ihn zu ebendiesen Zwecken zurechtbiegen zu können. Jobst war ein gieriger Karrierist und zugleich süchtig nach Hingabe und Unterwerfung. Carl beschloß, ihm zu geben, was er offensichtlich so dringend brauchte: Anziehung und Abstoßung in einem. Es bereitete ihm einen sadistischen Spaß zuzusehen, wie Wilhelm litt, wenn er sich mitten im Gespräch von ihm abwandte, einen anderen am Ellbogen faßte und so tat, als werde er endlich von der Gegenwart dieses immer schwarz Uniformierten erlöst; oder zuzusehen, wie ihm die Finger vor Freude zu zittern begannen, wenn er ihn mit »Wilhelm, mein lieber Freund!« begrüßte. Es dauerte nicht lange, und Wilhelm sprach mit Carl über alles, was im Uran-Verein verhandelt wurde, Carl brauchte nicht einmal zu fragen. Dennoch hütete er sich, diese Informationen in einem Maßstab von eins zu eins zu übernehmen. Wilhelm war bemüht, sich in Carls Meinung eine höhere Warte zu erobern, als er sich selbst zugestand; daß er also übertrieb. Für sich genommen waren Wilhelms Informationen die reinsten Horrormeldungen: Deutsche Wissenschaft und Technik schritten in Siebenmeilenstiefeln voran, mit dem Bau eines Prototyps der Uranbombe durfte innerhalb der nächsten zwei, höchstens drei Jahre gerechnet werden. Wenn er Jobsts Geschichten unüberprüft an Prichett weitergäbe, dachte Carl, würde das in der Royal Air Force ein Chaos auslösen. Allerdings verfügte er über keine andere, vergleichbar sprudelnde Quelle. Jobst ging ihm furchtbar auf die Nerven, auch meinte er bald, alles erfahren zu haben, was dieser wußte; jeder weitere Umgang mit ihm wäre nicht mehr nutzbringend gewesen. Was ihm dieser an Details seiner Arbeit bereits verraten hatte, würde genügen, damit er von den Seinen an die Wand gestellt würde. (Tatsächlich versuchte sich Jobst, als er nach dem Krieg eingesperrt wurde, als Widerstandskämpfer zu stilisieren, der unter Lebensgefahr Informationen über die Arbeit des Uran-Vereins an die Alliierten weitergegeben habe. Auf die Idee, Carl als seinen Zeugen zu benennen, kam er freilich nicht. Mit quietschendem Pathos rief er vor Gericht aus, er sei vielleicht der Naivität, gewiß aber nicht des bösen Willens schuldig. Man glaubte ihm, er kam frei und setzte seine wissenschaftliche Karriere erst in Westdeutschland und später in Italien fort und beendete sie schließlich an einer Universität in den USA, wo er auch seinen Lebensabend verbrachte – zusammen mit seiner inzwischen alkoholkranken Frau – und seine Erinnerungen niederschrieb: Der Faden der Ariadne. Wie man in Irrsal und Wirrsal den richtigen Weg nicht verliert. Erinnerungen eines Physikers unter dem Nationalsozialismus . Er starb 1984; sein Wunsch, in Princeton begraben zu werden, wurde nicht erfüllt.) Beim nächsten Jour fixe ließ ihn Carl abfahren; dreimal in der folgenden Woche rief ihn Jobst im Büro an, Carl blieb kühl, und als er merkte, daß Jobst aus dem Häuschen geriet und irgend etwas von Männerfreundschaft stammelte, empfand er nicht einmal mehr Häme. Aber schließlich verabredete er sich doch mit ihm zum Mittagessen, weil er fürchtete, die Anhänglichkeit könnte in Haß umschlagen und Jobst seinen SS-Freunden Lügen über ihn erzählen. Jobst kam gemeinsam mit seiner Frau, aber noch bevor der Nachtisch serviert wurde, verabschiedete er sich, sagte, er habe zu tun,
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