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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Gedanke war übrigens: Jetzt werde ich Wilhelm Jobst nicht mehr sehen, alles hat sein Gutes). Nach vier Tagen wurde er auf das Schiff Dunera verfrachtet und zusammen mit Hunderten anderen Bürgern des Deutschen Reiches, viele davon Kommunisten, Sozialdemokraten, aber auch Juden, die vor Hitler geflohen waren, nach Australien deportiert, wo er für die nächsten drei Monate in dem mit Stacheldraht und Wachtürmen gesicherten Lager Tatura / Victoria gemeinsam mit sechzehn anderen eine Baracke bewohnte. Schließlich wurde er noch einmal um den halben Globus gefahren, diesmal nach Kanada in ein weiteres britisches Internierungslager, das allerdings im Vergleich zum australischen wie ein Fünfsternehotel war. Dieser Aufenthalt dauerte nur eine knappe Woche. Er wurde in das Büro des »Direktors« geführt, und dort wartete Major Prichett zusammen mit einem Herrn in Zivil auf ihn. Dieser Herr kam Carl bekannt vor. Als er lächelte und ihm die Hand entgegenstreckte, wußte er, wer es war: J. Robert Oppenheimer.
    Carl: »Prichett versicherte mir, er sei, sobald er erfahren habe, was mit mir geschehen war, augenblicklich mit Margarida in Verbindung getreten, um ihr zu sagen, daß sie sich nicht sorgen müsse; zweitens sei er von Pontius zu Pilatus gerannt, um mich rauszuholen, was ihm aber leider erst nach einem knappen Vierteljahr gelungen sei. Irgendwie habe ich ihm nicht geglaubt. Aber wenn wir schon bei Pontius Pilatus sind: Was ist Wahrheit? Vor allem: Wen interessierte eine alte Wahrheit, wenn es inzwischen neue Wahrheiten gab, die um so vieles bombastischer waren. Während wir friedlich und unwissend wie Schafe in der australischen Steppe unsere Unfreiheit bei Kaninchensuppe genossen, war Amerika in den Krieg eingetreten. Und Oppenheimer? Was hatte der hier verloren? Die Deutschen, erklärte er mir, seien dabei, die Atombombe zu bauen, das wisse man aus absolut verläßlichen Quellen – eine davon war wohl ich gewesen; kein Geringerer als Albert Einstein habe Präsident Roosevelt angefleht, den Deutschen zuvorzukommen. Und Roosevelt habe das eingesehen und das größte Waffenentwicklungsprogramm der Menschheitsgeschichte gestartet. Und die wissenschaftliche Leitung dieses Programms sei ihm, Oppenheimer, übertragen worden. Und er wolle die besten Köpfe um sich scharen – Physiker, Chemiker, Elektrotechniker, Mathematiker –, und einer dieser Köpfe sei ich. Wenn ich mich aufraffen könnte, mich ihnen anzuschließen, würde es für mich ein leichtes sein, ein Permit zu bekommen, und nach einem Affidavit eines unbescholtenen Amerikaners würde man mir einen Paß ausstellen und so auch mich in kurzer Zeit zu einem Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika stempeln. Fast ein Jahr lang war Oppenheimer unterwegs – durch die USA, durch England, Kanada, Mexiko, wo immer die Klügsten der Klugen saßen, um zu tun, was man ihnen in Europa nicht mehr zu tun erlaubte; dieser fragile Mann ließ sich von Universität zu Universität chauffieren, von Labor zu Labor, von Institut zu Institut; er hatte die Anwerbung der Wissenschaftler, die den inneren Kreis des Manhattan Project bilden sollten, niemand anderem überlassen; mit jedem einzelnen, den er in seiner unmittelbaren Umgebung haben wollte, hatte er persönlich gesprochen, er hatte geglüht vor Begeisterung, als wäre sein Blut mit Uranstaub angereichert. – So bin ich also dazugestoßen. Was hatte Hametner in Göttingen zu mir gesagt? ›Sie haben gar keine andere Wahl, Candoris‹ – als mich in den immerwährenden Ausnahmezustand dieses irisierenden Mr. Oppenheimer zu begeben, hatte ich den Satz für mich vervollständigt. Darin besteht das Schicksal eines Mathematikers: Systeme zu vervollständigen. Und auch wenn uns der verehrungswürdig spielverderberische Kurt Gödel ausreichend bewiesen hat, daß Systeme nie vollständig sein können, versuchen wir es doch immer wieder. Als Trinity auf der jornada del muerto in der Wüste von New Mexico gezündet wurde – übrigens mitten hinein in das Gequake von Tausenden Wüstenfröschen, die nach dieser stürmischen Regennacht aus ihren Löchern geschlüpft waren, um sich zu paaren –, da gehörte ich zu den zweihundertsechzig Auserwählten, die niederknieten wie Moses vor dem brennenden Dornbusch und den Kopf in den Sand steckten, damit sie vom Blitz nicht geblendet würden.«
6
    Nachdem sie einen Nachmittag lang im Rumpf der verwundeten C-47 gesessen hatten – Makoto Kurabashi mit geradem Rücken auf der

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