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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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fruchtbarer und animierender als an den Universitäten in den USA. Unter anderem waren dort Kapazitäten wie Weissberg, Pomerantschuk oder Hellmann tätig. Das Institut bot Hametner eine ordentliche Professur und die Leitung eines Kernphysikalischen Instituts an, wenn er sich entschlösse, für wenigstens fünf Jahre in die Ukraine zu kommen. Er sagte zu und übersiedelte mit der Familie nach Charkov. Auch Helen fand Arbeit, sie unterrichtete russische Wissenschaftler in englischer Sprache und leitete zudem einen Literaturkurs. Ihr Kind wurde tagsüber in dem institutseigenen Kindergarten versorgt. Hametner hatte große Freude an seiner Tätigkeit, finanzielle Mittel schienen nahezu unbegrenzt zur Verfügung zu stehen. (Er untersuchte die Wechselwirkung von Neutronen mit Materie. Seine Forschungen bekamen nach der Entdeckung der Kernspaltung Bedeutung für den Aufbau und die Dimensionierung von sogenannten Uranmaschinen.) Und dann änderte sich in kurzer Zeit alles. Der NKWD verhaftete Mitarbeiter des Instituts. Als Hametner protestierte, wurde er ebenfalls verhaftet und ins Butyrka-Gefängnis nach Moskau gebracht. Helen verließ mit ihrem Sohn die Sowjetunion, floh über Riga nach Dänemark; sie bat Niels Bohr zu helfen. Und Bohr half wieder. Er organisierte eine internationale Protestbotschaft, die unter anderem von Irène Curie, ihrem Mann Frédéric Joliot-Curie, von Jean Perris und sogar von Eleanor Roosevelt, der Gattin des amerikanischen Präsidenten, unterzeichnet und an Stalin weitergeleitet wurde. Tatsächlich kam Hametner frei. Aber nicht, weil sich Stalin von den Wissenschaftlern und Amerikas First Lady hatte erweichen lassen, sondern weil er inzwischen einen Pakt mit Hitler geschlossen hatte, in dem unter anderem vereinbart worden war, daß in die Sowjetunion geflüchtete deutsche Kommunisten ausgeliefert würden. Die Beamten des NKWD übergaben den gefolterten, halb verhungerten, an Augenschmerzen leidenden Hametner in Brest-Litowsk an die Kollegen der Gestapo, die ihn nach Berlin in das Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße brachten, wo er bis zur seelischen Erschöpfung verhört wurde. Diesmal half der Nobelpreisträger Max von Laue, der sowohl Hametner als auch Helen noch aus Göttingen kannte. Er sprach forsch bei der Gestapo vor, nahm alles zusammen, was er an Stimme zur Verfügung hatte, fragte, ob die Herren denn überhaupt eine Ahnung hätten, wen sie da im Gefängnis festhielten, ob sie denn nicht wüßten, was dieser Mann für die deutsche Wissenschaft bedeute. Das zeigte Wirkung. Hametner wurde an von Laue übergeben, damit der ihn für deutsche Zwecke einsetze. Es war allerdings klar, daß er das Land nicht verlassen durfte und daß er von der Gestapo beschattet wurde. Von Laue besorgte ihm die Stelle am Institut von Manfred von Ardenne.
    Wahrscheinlich vermutete Hametner, daß Carl mit englischen oder französischen Wissenschaftlern Kontakt hielt und an diese weitermeldete, was er ihm erzählte. Er sprach ihn nicht direkt darauf an. Carl meinte es jedoch zu spüren. Er vermochte aber aus dem wenigen, das er als eine Andeutung in diese Richtung interpretierte, nicht abzuschätzen, wie Hametner, falls er zur Auffassung gelangt war, Carl spioniere für die Feinde Nazideutschlands, diese Sache beurteilte. Hätte ihm Carl vor zehn Jahren gesagt, er würde eines Tages mithelfen, einem faschistischen Regime zu schaden, es wäre sonnenklar gewesen, wie der Kommunist Hametner darauf reagiert hätte: Er hätte ihm den Bruderkuß angeboten. Nun waren zehn Jahre vergangen. Es war auch nicht einfach, mit Hametner mehr als fünf Sätze zu sprechen. Sie hätten sich im Café treffen können, oder sie hätten über den Kurfürstendamm spazieren können oder sich in ein Kino setzen. »Nicht, weil ich fürchte, es belauscht einer, was wir reden«, wehrte Hametner solche Einladungen ab, »aber hinterher werden sie mich ausfragen, was wir geredet haben, und mit Ihnen, Candoris, werden sie vielleicht auch dieses Spiel spielen, und zuletzt können wir überhaupt nicht mehr miteinander reden.« Es war nicht nötig zu fragen, wer »sie« waren. »Es hat nichts mit Ihnen zu tun, glauben Sie mir. Außer mit Helen spreche ich grundsätzlich mit niemandem unter vier Augen.« Sie trafen sich beim Jour fixe im Springer Verlag. Dort kam es vor, daß Hametner Carl einen Witz erzählte und ins Lachen hinein, noch aus dem breiten lachenden Mund heraus, die eine oder andere Information weitergab, meistens nichts von

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