Abendland
und zwinkerte dabei auf so unnachahmlich schmierige Weise, daß Carl meinte, er müsse sich auf der Stelle übergeben. Carl, nun mit Marianne allein, sagte, er wolle gern einen Cognac mit ihr trinken, müsse sich dann aber ebenfalls verabschieden. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und streichelte sein Hosenbein. »Es war so exorbitant widerlich«, erzählte er, »und zugleich auch herzzerreißend. Ich sagte ihr auf den Kopf zu, was ich vermutete, nämlich daß ihr Mann sie gebeten hätte oder gar ihr befohlen hätte, das zu tun. Sie fing sofort zu heulen an und gab alles zu. Und genauso wie ihr Mann unaufgefordert alle seine Geheimnisse vor mir ausgebreitet hatte, beichtete sie mir, ohne daß ich gefragt hätte, Wilhelms Plan. Sie hätte mich zu sich nach Hause abschleppen sollen, und wenn wir beide im Bett lägen, stehe plötzlich Wilhelm vor uns, aber er würde gar nicht böse sein, sondern sich mit einem Dreierverhältnis einverstanden erklären. Und warum er das wolle, fragte ich sie. ›Er hält dich für ein großes Tier‹, sagte sie, weiter verzweifelt die Verführerin spielend, mit einer Stimme, so intim wie das Rascheln eines Bettlakens.«
Es dauerte gerade achtzehn Tage, bis die Deutsche Wehrmacht die polnische Armee zerschlagen hatte; die technische Überlegenheit der Naziarmee war schockierend. Hitler hielt in Danzig eine Rede, in der er damit prahlte, es werde »sehr schnell der Augenblick kommen, daß wir eine Waffe zur Anwendung bringen, durch die wir nicht angegriffen werden können«. Der britische Premierminister Chamberlain beauftragte Admiral Sinclair vom SIS, mit Hochdruck in Erfahrung zu bringen, um was für Waffen es sich dabei handelte. Der einzige im SIS, der wenigstens über naturwissenschaftliche Grundkenntnisse verfügte, war Major Rupert Prichett; er nahm an den Sitzungen der Arbeitsgruppe teil, in der die Hitlerrede analysiert wurde. Er war auch der einzige, der halbwegs Deutsch sprach (er selbst war es gewesen, der Otto Hahns Aufsatz ins Englische übersetzt hatte). Er erklärte den anderen Herren, daß »Waffe« Singular, nicht Plural sei; daß Hitler also von einer, einer einzigen Waffe gesprochen habe. Das löste eine Panik aus. – Im Mai 1940 trat Chamberlain zurück, und Winston Churchill bildete eine Allparteienregierung.
Im selben Monat traf Carl seinen Studienfreund Eberhard Hametner wieder – und zwar in Ardennes Forschungslaboratorium für Elektronenphysik. Hametner hatte dort eine vorläufige Anstellung gefunden. Er sah ausgezehrt aus, niedergebrannt, ein Schneidezahn fehlte ihm, auf seinem Kopf waren mehrere münzgroße haarlose Flecken, er trug eine dunkle Brille, weil seine Augen nur wenig Licht vertrugen. – Er hatte, weiß Gott, einen weiten Weg hinter sich.
5
Gleich nach Hitlers Machtantritt war Eberhand Hametner nach Kopenhagen gefahren. Er hatte eine Einladung von Niels Bohr erhalten, an dessen Institut über seine Forschungen zur Frage der Kernschmelze in der Sonne zu sprechen. Dort erfuhr er, daß in Deutschland Kommunisten eingesperrt wurden. Er schrieb Geoffrey Brown nach England und bat ihn, er möge ein Stipendium für ihn besorgen. Das gelang auch, und Hametner zog nach London. Aus Dank gegenüber Geoffrey spannte er ihm seine Freundin aus. Eberhard habe ja nicht aufgehört, in Helen Abelson verliebt zu sein, und das habe auf sie wohl irgendwann Eindruck gemacht, meinte Carl. Um Geoffrey zu beweisen, daß er nicht einfach ein schäbiges Spiel treibe, machte er Helen einen Heiratsantrag. Sie stimmte zu; knapp ein Jahr später wurde ihr Sohn geboren. Als das Stipendium abgelaufen war, bekam Hametner eine wenig attraktive Stelle im Television Laboratory bei EMI ( His Master’s Voice ) angeboten. Er und Helen zogen mit dem Kind nach Hayes in Middlesex. Die beiden und auch Geoffrey Brown setzten viel in Bewegung, um Freunden und Kollegen in Deutschland zu helfen, vor allem Einladungen an verschiedene Institute durchzusetzen, damit die Betreffenden Deutschland verlassen konnten. Zu diesem Zweck fuhr Hametner öfter nach Paris. Er lernte Frédéric Joliot-Curie kennen, der damals ebenfalls Mitglied der Kommunistischen Partei war. Auch Sascha Leipunski lernte er kennen; der russische Physiker war auf ein Gastsemester nach Paris gekommen. Leipunski schwärmte Hametner von dem neuen Physikalisch-Technischen Institut in Charkov in der Ukraine vor. Man suche dort dringend Wissenschaftler, die Bedingungen seien außerordentlich komfortabel, in mancher Hinsicht sogar
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