Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
außergewöhnlichen Lage.« – Als ihn Sergeant Cousins unterbrechen wollte, hob Carl die Hand zu einer zugleich zärtlichen und despotischen Geste, die Cousins – wie er fünfzehn Jahre später nach Makoto Kurabashis Tod in seinem langen Brief an Carl schrieb – »mit einem Schlag von der Bedeutung dieses Augenblicks überzeugt sein ließ«. – »Wir sind in der außergewöhnlichen Lage«, fuhr Carl fort, »allein auf uns gestellt, ohne die Rückendeckung eines Befehls, über Sein oder Nichtsein eines außergewöhnlichen Menschen entscheiden zu können.«
    »Professor Candor«, flüsterte Cousins zurück, »ich weiß nicht, ob ich der richtige Mann bin, den Sie als Verbündeten brauchen.«
    »Sie haben ihn gefunden, Sergeant, ich habe ihn erkannt. Wir beide können die Verantwortung an niemand anderen auf der Welt abgeben.«
    »Von Makoto Kurabashis tatsächlicher Außergewöhnlichkeit hatte ich mir damals natürlich noch keinen Begriff machen können«, erzählte Carl. »Wenn ich ehrlich bin, war ich weniger von seiner als von meiner Außergewöhnlichkeit berauscht. Ein solches Pathos, dazu von solcher Überzeugungskraft – immerhin gelang es mir innerhalb weniger Minuten, das Soldatenherz von Master Sergeant Cousins aufzuschließen –, entwickelt jemand nur, wenn es um ihn selbst geht, meine ich. Ich war gerührt von dem Gedanken, etwas Gutes tun zu können, ohne Zweifel. Ich möchte diese edle Anwandlung um Himmels willen nicht verkleinern. Wahr ist aber auch, daß ich mich selbst an diesem späten Nachmittag neu erfand: Ich erfand mich als Mäzen. Der Mäzen ist das säkularisierte Genie. Es gehört einiges dazu, in der schier unendlichen Fülle von vollendeten und klar voneinander geschiedenen Wesenheiten das Außergewöhnliche zu entdecken. Das originäre Genie kreiert Schönheit. Der Mäzen definiert sie. Das ist auch nicht schlecht. Er zieht sie hinüber in den Bereich der Übertreibung. Vielleicht läßt sich ja ein wenig Glanz des Einmaligen abzweigen. Alles, was man tut, tut man für sich selbst; wenn dabei auch etwas für einen anderen rausspringt, ist das ein Zufall; wenn man es dabei beläßt und den Zufall nicht stört, ist man ein guter Mensch.«
    Sergeant Cousins fragte Makoto, ob er einen Lastwagen fahren könne.
    »Ich glaube schon«, antwortete Makoto, »es kommt nur darauf an, wie breit die Straße ist.«
    Von dieser Antwort an, schrieb Cousins in seinem Brief, habe er den Jungen gemocht – jawohl, eine kluge, eine lustige, eine pragmatische Antwort, die er seither oft weitererzählt habe. Von diesem Augenblick an sei es ihm ergangen wie Carl: Er habe bei sich beschlossen, sich um Makoto Kurabashi zu kümmern.
    Cousins, dieser in allem allzu schnell zuversichtliche Mann, ordnete einige Umstellungen an. Carl zog zu ihm in die Baracke, er bekam dort ein eigenes Zimmer – vorher war er zusammen mit First Lieutenant Zoreg in einem Raum untergebracht gewesen. Außer zwei Soldaten, die Cousins zur Bewachung zugeteilt waren und zur Unterstützung seiner Aufgaben (niemand wußte, worin die eigentlich bestanden), wohnten hier von nun an nur er, Carl und Makoto; zwei Räume in der Baracke waren noch übrig, die blieben leer – »aus Gründen der Sicherheit« (so lautete der Argumentations-Joker, der noch in der unsinnigsten Sache den Stich machte). Cousins rechtfertigte die Entscheidung damit, daß Makoto Kurabashi eine Art hochkomplizierte Rechenmaschine sei, deren Wartung nur Professor Candor beherrsche, der auch der einzige sei, der sie für seine Arbeit benötige. Einer der Soldaten sollte Makoto Fahrunterricht erteilen – das sei Teil der »Wartung«. Carl fragte Cousins, was für einen Sinn das habe, wozu Makoto diese Ausbildung nütze, ob er ihn zu einem LKW-Fahrer ausbilden wolle. Cousins antwortete: »Es ist nicht gut, wenn er den lieben langen Tag nur rechnet. Was nützen ihm die Lösungen, wenn er sie herauskriegt? So muß die Frage lauten. Soll er im Zirkus auftreten? Er soll etwas Praktisches tun. Ich könnte ihn auch Gemüse neben der Rollbahn anpflanzen lassen. Man würde mich für einen nervenkranken Tyrannen halten und ihn uns wegnehmen. Wenn ich ihn aber in ein paar Wochen als meinen ortskundigen Fahrer ausgeben kann, wird man oben keine Fragen stellen.«
    Carl und Sergeant Cousins teilten sich den Tag. Die Vormittage verbrachte Carl mit Makoto; an den Nachmittagen bekam Makoto Fahrunterricht – bereits nach zwei Tagen spielte Cousins selbst den Lehrer. Makoto schien sich für

Weitere Kostenlose Bücher