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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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beides zu interessieren – für die Mathematik am Vormittag und fürs Lastwagenfahren am Nachmittag. Anfänglich, als Carl und Cousins noch gemeinsam an ihrem Schutzbefohlenen »arbeiteten« (und es durchaus auch so formulierten), tauschten sie ihre Beobachtungen und Erfahrungen noch aus. Ihre Phantasie reichte allerdings nicht bis dorthin, wo sich ein Bild von dem entwerfen ließ, was in dem jungen Mann vorgehen mochte. Makoto war immer gut gelaunt, immer zu Clownerien aufgelegt. Die Soldaten drüben beim Reparaturfeld hatten ihren Spaß mit ihm. Sie riefen ihm sechsstellige Zahlen zu, damit er sie multipliziere, wobei Makoto das Ergebnis wußte, ehe der Frager Atem geholt hatte. Bei Divisionen, die nicht aufgingen, rechnete er bis auf zehn, zwölf, fünfzehn Kommastellen; dabei schloß er die Augen und vollführte mit dem Kopf seine Achterschleifen, verzog das Gesicht, als hätte er Schmerzen, beschwichtigte Carl und Cousins aber: es tue ihm nichts weh, gar nichts. Die Soldaten lachten und äfften ihn nach; aber sie meinten es nicht böse, es war eben ihre Art zu staunen. Carl und Cousins ließen das bald nicht mehr zu. Sie hielten die Mannschaft von ihrem Wunderkind fern – und das Wunderkind von der Mannschaft. Auch das schien Makoto recht zu sein. Er beschwerte sich nicht, fragte nicht nach. Genau damit aber hatte Carl gerechnet; er hatte ihn beobachtet, wenn er mit den Soldaten zusammen war; er schien sich bei ihnen wohl zu fühlen, er kannte einige beim Namen, und er genoß es sichtlich, wenn der Jubel ausbrach, nachdem einer der Soldaten mit Bleistift und Papier eine Division oder eine Multiplikation nachgerechnet hatte. Bei den Soldaten gab sich Makoto anders als bei Carl. Er spielte ihnen etwas vor – den naiven Tor nämlich, der weder über die Situation, in der er sich befand, noch über sich selbst reflektierte; was war er denn: ein vater- und mutterloser junger Mann, dessen gesamter Besitz in seine zwei hohlen Hände paßte, der sich am Rande einer zur Unkenntlichkeit zerbombten und verbrannten Stadt bei jenen Männern aufhielt, die an der Zerstörung seiner Welt mitgewirkt hatten. Die Soldaten mochten ihn gern; aber so, wie man ein abgerichtetes Äffchen gern mag. Bald langweilte sie seine Zauberrechnerei, und sie wandten sich anderen Themen zu – Frauen und Geld; und in diese Gespräche bezogen sie Makoto nicht ein. Der blieb noch eine Weile bei ihnen sitzen, bewegungslos, still, und schlich sich schließlich davon, ohne daß sie es merkten. Sie wollten im Grunde nichts mit ihm zu tun haben, das war offensichtlich, er war ihnen zu kurios, ein freak . Jeder andere wäre darüber gekränkt gewesen – Makoto war es nicht. Daraus schloß Carl, daß er seinerseits mit den Soldaten im Grunde nichts zu tun haben wollte; daß sie ihm mindestens ebenso gleichgültig waren wie er ihnen.
    Cousins gegenüber verhielt sich Makoto wieder anders. Er bewegte sich anders, als er sich in Carls Gegenwart bewegte. Sein Gang wurde schwer und plump, mit den Armen schlenkerte er weit aus, die Hände waren geöffnete Fäuste, als hätten sie gerade derbes Gerät fallen lassen; er kaute Kaugummi, blinzelte auf einem zugekniffenen Auge, spuckte durch seine schiefen Zähne einen weiten Bogen. Seine Stimme senkte sich; seine Sprechweise und sein Englisch, die sonst – das heißt, wenn er mit Carl sprach – satzvollendend und erstaunlich wortreich waren, wenn man bedenkt, daß er zuvor nie mit genuin Englischsprachigen zu tun gehabt hatte, präsentierten sich nun floskelhaft und abgehackt, aufdringlich verschliffen; bereits nach wenigen Sätzen hatte Carl Mühe, sich vorzustellen, daß derselbe junge Mann noch am Vormittag eine so überraschend originelle Überlegung, betreffend einen Beweis für die Annahme, daß sich jede gerade Zahl als Summe von zwei Primzahlen schreiben läßt, vorgetragen hatte. Am Nachmittag gab Makoto den LKW-Fahrer, den Mann, der für alles zu gebrauchen war, auf den man sich in jeder Situation verlassen konnte, der auf jede Theorie pfiff, der zur Crew gehörte. Cousins jubelte: »Ich habe etwas völlig Falsches in ihm gesehen. Ich dachte, er ist ein verwöhnter Intellektueller, bei dem man aufpassen muß, daß er sich nicht erkältet, wenn man beim Fahren das Fenster öffnet.« – »Und wie ist er wirklich?« fragte Carl. – Darauf wußte der Sergeant freilich keine Antwort, die ihn selbst zufriedengestellt hätte. Carl, der mit einem Gemisch aus Rührung, Eifersucht und Forscherneugier die

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