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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Wichtig sind andere Fragen: Was wäre aus Makoto geworden, wenn Sergeant Cousins ihn an jenem Nachmittag nicht zu mir gebracht hätte? Wenn ich mich vor ihm nicht ›neu definiert‹ hätte? Wenn dieser Bursche nicht meinem Leben einen Sinn gegeben hätte? ›Der Mäzen‹ – was soll das bedeuten? Es bedeutet, daß einer die Form ausschlägt, in der ein anderer gebacken werden soll. Vielleicht wäre Makoto ohne mich heute noch am Leben. Warum hat er sich das Leben genommen? Die bizarre Weise, wie er es tat, schreibe ich nicht mir zu. Aber daß er es getan hat. Oder, Sebastian, unsere Fragen, unsere Fragen: Was wäre aus deinem Vater geworden, wenn ich ihn nicht angesprochen hätte, nachdem ich ihn im Embassy-Club gehört habe? Wenn ich nach Hause gegangen wäre? Einfach nach Hause gegangen wäre. Wenn ich mich nicht zu seinem Mäzen aufgeschwungen hätte. Was, wenn ich mich nicht von Agnes als Kuppler hätte einspannen lassen. Wenn ich nicht dieses Interview für down beat gemacht hätte. Wenn ich ihm nicht die Gibson gekauft hätte. Wenn ich ihm nicht Geld gegeben hätte, um diesen Jazzclub in dem ehemaligen Bierlager in der Taborstraße zu eröffnen, mein Gott. Und so weiter. Antworte mir bitte nicht!«
    Ich saß noch immer auf der niedrigen Bank hinter ihm und atmete flach. Ich zog C.J.C. 7 aus meiner Manteltasche und notierte mir Stichworte. Er rechnete damit, nahm ich an, erwartete es wahrscheinlich sogar. Nach einer Weile, die er brauchte, um sich aus seiner Betrübnis ein Stück nach oben zu wühlen, setzte er zu einer Vorlesung über Logik an, die den mortal terror relativieren sollte, indem derselbe ins Exemplarische gehoben wurde: »Auf der gediegenen Standfestigkeit der Logik behauptet sich der Glaube an die Vernunft, und die Vernunft hielt ich während meines Lebens für die wesentliche Grundlage der zivilisierten Menschheit …« – Aber die Logik schaffte es nicht, ihm die Bodenhaftung zu sichern, die er so dringend nötig hatte, nachdem der Tod, abgeschreckt von einem Banausen wie mir, an ihm vorübergegangen war. Also befahl er mir, ihm in den Rollstuhl zurückzuhelfen, und legte sich weiter mit mir an; fragte, was mir im Augenblick am meisten weh tue, nannte mich einen dummen Hund, sagte, die Abgeklärtheit eines Mannes in mittleren Jahren, die ich ihm vorspiele, gehe ihm auf die Nerven. Und hielt mir vor, daß Dagmar und ich uns getrennt hatten (ohne ihn vorher zu fragen!).
    »Fahr’ mich vor zur Straße«, raunzte er mich an. »Ich möchte noch nicht nach Hause! Ich möchte Autos hören und Autos riechen! Ich habe noch nicht genug davon abbekommen.«
    Zorn, Streitsucht, Rechthaberei und Keiferei führten ihn ins Leben zurück und hießen ihn darin willkommen.
2
    Nach dem Mittagessen, als sich Carl hingelegt hatte, klingelte das Telefon. Es war die Journalistin, die einige Tage zuvor mit einem Kamerateam hiergewesen war, um Carl zu interviewen. Sie habe nun doch noch einen zusätzlichen Termin bekommen, und zwar einen sehr attraktiven Sendeplatz für ein wirklich umfangreiches Porträt über Professor Candoris, sagte sie (bei ihrem ersten Besuch hatte sie noch versichert, sie plane gar keine bestimmte Sendung); Filmmaterial habe sie genug, das sei kein Problem, aber sie benötige noch einige Informationen für den Off-Text; sie könne nun doch etwas in die Tiefe gehen, wie sie es von Anfang an vorgehabt habe; ob sie noch einmal, diesmal allein, vorbeikommen dürfe, nur sie und ihr Schreibblock. Ich sagte: »Der Professor wird sich freuen.« Ob es schon heute nachmittag sein könne. »Aber selbstverständlich«, sagte ich.
    So eilig hatte man es in der Redaktion? So wenig Zeit gab man dem großen Zeitgenossen noch? Und dieser »Sendeplatz« – wann war der? Noch im Laufe dieses Monats? Oder erst im März? Oder im April? Oder im Mai? Bis wann mußte Herr Professor Candoris unbedingt gestorben sein, damit der Termin eingehalten werden konnte?
    Ich brauchte bei Carl nicht erst nachzufragen, ob ihm ein weiteres Interview recht sei. Es war offensichtlich gewesen, wie gut ihm die junge Frau gefiel. Mir hatte sie auch gefallen. Und weil ich inzwischen auf der Rekonvaleszenzleiter acht Tage weiter war und diesmal nicht den finsteren Charismatiker spielen wollte, der sich im schwarzen Mantel ins Freie verdrückte, während der Meister vor der Bücherwand angehimmelt wurde, richtete ich mich her: Ich badete, rasierte mich, wusch mir die Haare, fönte und zerwuselte sie, warf mir eine Handvoll Rasierwasser

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