Abendland
die Mathematik hätten ihn, aber auch nur in den glücklichen Phasen, aus diesem Hypnoseschlaf geweckt.
Carls Geschmack zielte auf das Abgeschlossene, das Fertige, das Klassische, das er, wenn er es für sich gewonnen hatte, über Jahrzehnte nicht änderte. Er ritualisierte die Dinge und seinen Umgang mit ihnen. Dahinter wirkte die Idee, daß in einer säkularisierten Welt das Sakrale nur als das Ästhetische erscheinen könne. Exakt so drückte er sich mir gegenüber aus, als ich Makoto Kurabashi mit meinem Vater verglich, daß sie beide ihre Sache, mein Vater die Musik, Makoto die Mathematik, in einer nachgerade priesterlichen Art und Weise betrieben hätten. »Sie verwandeln Religion in Schönheit«, faßte er es in eine Formel. Ich widersprach ihm. Sagte: Sowohl mein Vater als auch Makoto Kurabashi – soweit meine Schlüsse, die ich aus den Erzählungen gezogen hatte, richtig seien – verwandelten, eben genau umgekehrt, das Ästhetische in das Sakrale, Kunst in Religion. Nicht für sie, für ihn, für Carl, lasse sich, sagte ich im Tonfall des Vorwurfs, das Heilige in das Schöne übersetzen, ohne daß dabei etwas verlorengehe – nicht für den Mathematiker und den Musikanten. Mein Vater hatte einmal nach einem besonders schönen Solo, vorgetragen im Stiegenhaus zu Nofels – Publikum: meine Mutter und ich –, zornig ausgerufen: »Ja, glaubt ihr denn, das kommt von mir? Ich könnte nicht einmal halb so schön spielen! Das kommt von Gott!« Makoto Kurabashi sah es wohl nicht anders, nur daß er seine Sache wesentlich zusammenkürzte, indem er sich selbst zu einem Gott erklärte. – Wenn Carl in einer Aufwallung von Verzweiflung oder Fremdheit am Morgen dieses Tages nach dem lieben Gott gerufen hatte, so denke ich, der Weg, den er ihn bat ihm zu zeigen, sollte ihn aus dem Reich der Ästhetik und der Logik in das Reich des Numinosen führen.
Sein Gesundheitszustand hatte es nahegelegt, daß er ins Parterre übersiedelte. Das Eßzimmer war ausgeräumt und nach pflegerischen Gesichtspunkten zu einem Schlafzimmer umgebaut worden. Carl: »Wozu brauche ich allein ein Eßzimmer?« Nun standen hier ein Bett, das auf Knopfdruck alle Stücke spielte, und eine fahrbare Toilette; an der Wand waren zwei Waschbecken angebracht worden, eines tiefer, damit sich der Patient Gesicht und Hände waschen konnte, ohne aus dem Rollstuhl aufzustehen, das andere für das Pflegepersonal. Ein Telefon baumelte an einem Kran über dem Bett, ein weiteres klemmte neben den Waschbecken an der Wand. Ein Arzneischrank, verglast und aus weißlackiertem Eisen, stand in einer Ecke; darin stapelten sich die Arzneischachteln, auch eine elektrisch betriebene Kühlbox war da. Von der Decke herab hing eine milchweiße Glaskugel, die Lampe konnte vom Bett aus geschaltet und gedimmt werden. Die Wände waren weiß, die Vorhänge ebenso. Ein deprimierender Anblick; fehlte nur noch, daß der Boden gekachelt wäre.
Er werde zurechtkommen, sagte er kurz angebunden; ich solle mich nicht um ihn kümmern, es genüge, wenn ich den Rollstuhl parallel zum Bett stelle.
»Wenn du mich brauchst«, fragte ich, »wie merke ich das? Kann ich dich oben unter dem Dach hören? Doch sicher nicht. Soll ich im Wohnzimmer auf der Couch schlafen?«
»Ich nehme den Wecker und schmeiße damit die Fensterscheibe ein.«
»Ich verstehe diesen Witz nicht.«
»Ich brauche dich nicht.«
»Sebastians Zimmer« zeigte nach Süden und Westen, freier Blick auf den Patscherkofel und den Lansersee; es lag unter dem Dach, über Margaridas Schlafzimmer, und war über eine schmale, steile Holzstiege zu erreichen. Von dem engen Flur davor gingen noch zwei weitere Zimmer ab und ein nicht ausgebauter, fensterloser Raum, der vollgestopft war mit Koffern und Gerümpel. Die beiden anderen Zimmer waren hübsch für Gäste eingerichtet und waren, soweit ich weiß, nie gebraucht worden, weil in den unteren Stockwerken genügend Platz war. (Frau Mungenasts Zimmer lag zwischen den ehemaligen Schlafzimmern von Carl und Margarida. Ich habe es nie betreten.) Meines war das geräumigste der Dachzimmerchen, wegen der beiden Erker auch das verwinkeltste, und es war mit denselben Möbeln und in ähnlicher Ordnung eingerichtet wie ehedem mein Zimmer in der Anichstraße. Eine Dusche und ein WC waren da, und alles, was ich brauchte an Kleidern und Wäsche, sogar ein Paar Bergschuhe der Firma Hanwag stand unten im Kasten, gut hundert Bücher waren alphabetisch nach Autoren in einem Regal aufgereiht, ein
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