Abendland
an, und die Männer und Frauen müssen aussteigen. Sie müssen sich in Zweierreihe aufstellen und marschieren – über die Lannerstraße, die Vegagasse, die Peter-Jordan-Straße, die Hardtgasse, die Kreindlgasse. Rechts und links stehen Neugierige, die übertreffen sich in ihren herzlosen Bemerkungen. Einer ruft meinem Großvater zu: ›Nimm die Hände aus den Taschen!‹ Aber er hat ja gar nicht die Hände in den Taschen gehabt. Ein SS-Mann hält ihn auf und sagt: ›Wer hat Ihnen erlaubt, die Hände in die Taschen zu stecken?‹ Mein Großvater sagt: ›Ich habe sie ja gar nicht in den Taschen gehabt.‹ Der SS-Mann sagt: ›Aber man hat Sie gesehen.‹ Und mein Großvater sagt: ›Wäre es denn so schlimm, wenn ich meine Hände in meinen Taschen gehabt hätte?‹ Da gibt ihm der SS-Mann einen Tritt in den Steiß. Mein Großvater fällt auf die Knie. Im Kommissariat jagt man ihn und die anderen in den ersten Stock hinauf, wo die Personalien aufgenommen werden. Mein Großvater hat keine Papiere bei sich. Er war ja nur vor sein Geschäft getreten, um zu schauen, was für ein Lärm da war. Er wird in einen gesonderten Raum gebracht zu den anderen, die ebenfalls keine Papiere bei sich haben. Es sind an die hundertfünfzig Leute. In dem Raum steht ein Kohleofen, es ist sehr heiß hier. Einer sagt: ›Alle Juden von Wien werden nach Dachau gebracht.‹ Mein Großvater sagt: ›Ich bin nur zu einem Viertel Jude.‹ Es interessiert niemanden. Alle zehn Minuten kommt ein Polizist herein oder ein SS-Mann, der sagt: ›Hier stinkt’s! Müßt ihr Zwiebelfresser denn dauernd furzen? Wer sich hinsetzt oder an der Wand anlehnt, bekommt Prügel.‹ Sie stehen bereits vier Stunden, als die Verhöre beginnen. Fünf Beamte verhören. Einer nach dem anderen kommt dran. Mein Großvater wird gefragt: ›Wie steht es mit den Parteien?‹ Er weiß nicht, was der Satz bedeuten soll. Er sagt: ›Ich verstehe Sie nicht.‹ – ›Bei welcher Partei waren Sie Mitglied?‹ – ›Ich war bei keiner Partei Mitglied.‹ – ›Aber bei der Vaterländischen Front werden Sie doch zumindest gewesen sein.‹ – ›Nein.‹ – Sie fragen nach seinem Eigentum, nach seinem Vermögen, Grundbesitz, Vorstrafen, Geschlechtskrankheiten. Ob er schon einmal bei einer Hur gewesen sei. Er sagt, er sei noch nie bei einer Prostituierten gewesen. Der Beamte sagt: ›Ihr Juden steckt doch überall eure Schwänze hinein.‹ Mein Großvater sagt: ›Ich bin nur zu einem Viertel Jude.‹ Er muß das Protokoll des Verhörs unterschreiben. Er fragt, ob er zu Hause anrufen dürfe, seine Frau sei sicher in Sorge. Er darf nicht. Er wird ins Erdgeschoß geschickt. Inzwischen ist es draußen dunkel. Im Stiegenhaus stehen ein paar hundert Leute eng beieinander. Es wird geraucht und gelacht. Die Stimmung hier ist nicht schlecht. Mein Großvater setzt sich auf die Stufen. Er ist erschöpft und hungrig, aber als einer einen Witz erzählt, lacht auch er. Man bekommt Wasser zu trinken. Jemand gibt ihm eine Schnitte Brot und ein Stück Wurst. Es wird spekuliert. Die meisten gehen davon aus, daß sie nach Dachau gebracht werden. Dieses Dachau müsse sagenhaft groß sein, wenn man dort alle Juden im Reich hinbringen wolle. ›Ich bin nur zu einem Viertel Jude‹, sagt mein Großvater. Er sagt es gerade in dem Moment, als hinter ihm eine Tür aufgeht und ein SS-Verfügungstruppenmann heraustritt. ›Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?‹ brüllt er meinen Großvater an. Ein Mann aus Deutschland, Röhrenstiefel, Stahlhelm. Es ist still geworden. Einer sagt: ›Der will sich rausreden.‹ Der SS-Verfügungstruppenmann mit der Revolvertasche an der Hüfte brüllt: ›Wer war das? Wer hat das gesagt?‹ Es ist still. Der SS-Verfügungstruppenmann zeigt auf einen x-beliebigen, einen jungen Burschen mit hoher Stirn und kleinen Stummelzähnen. Er soll sich auf die Fußspitzen stellen, die Arme hochhalten, die Finger strecken und zusammenziehen, und das so lange, bis ihm befohlen werde, damit aufzuhören. ›Nach dem Gesetz ist ein Vierteljude wie ein Arier zu behandeln‹, sagt der Mann, der hier das Gesetz vertritt. ›Deutschland ist ein Land, in dem man sich an die Gesetze hält.‹ Nach einer Weile sagt mein Großvater zu dem SS-Verfügungstruppenmann: ›Wer auch immer das gesagt hat, er hat es sicher nicht böse gemeint.‹ Der junge Mann, der auf den Fußzehen stehen und die Arme hochhalten und die Finger strecken und zusammenziehen muß, fragt, ob er bitte eine Pause machen
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