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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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daß er in Wahrheit das genaue Gegenteil eines Pedanten war? Was aber ist das Gegenteil von Pedanterie? Was, glaubte mein Vater, hielt mein Großvater für das Gegenteil von Pedanterie? Liederlichkeit. Er wollte unter gar keinen Umständen für liederlich gehalten werden. Weil er liederlich war?
    Ich neige zu einsamen, unsinnigen Beschäftigungen. Wahrscheinlich bin ich deswegen Mathematiker geworden. Zwei durchaus einander widersprechende Eigenschaften trifft man bei Mathematikern sehr häufig an: Sie wollen sich selbst frei von nützlicher Arbeit halten und sind der Meinung, die Welt sei von Grunde auf vernünftig und deshalb bis in ihre Verästelungen logisch deduzierbar. Die Welt um mich herum war in Scherben zerschlagen, und ich vertrieb mir die Zeit mit der Analyse eines Schriftstücks. Und ich war glücklich dabei. Mein Großvater und meine Großmutter hielten sich rund um den Tag in den beiden Zimmern auf, die ihnen geblieben waren, im Westflügel des dritten Stockes, Bibliothek und Rauchsalon. In den Augen meines Großvaters glaubte ich eine Verwirrung zu erkennen, sie blickten heiter und unbesiegt, aber sie schienen nicht von den wirklichen Kämpfen zu erzählen, die er bestanden hatte – gegen Heckenschützen und Tiefflieger, gegen die panisch marodierende SS oder gegen das plündernde Wienerherz –, sondern von Kämpfen, die nicht in dieser Welt geschehen waren – gegen Drachen, Windmühlen, den Nemeischen Löwen und die Lernäische Hydra. Er hockte vor der Bücherwand wie ein Zerberus, weil hinter Grillparzer, Schopenhauer, Goethe, Herder, den gebundenen Verlautbarungen der Deutschen Bühnengesellschaft oder wie das Blatt hieß und all den anderen papierenen Zeugen des deutschen Humanismus die letzten Spezereien und Fleischkonserven, Schokoladetafeln und Kaffeepakete und was sonst noch alles für Delikatessen versteckt waren, die er vor der restlosen Plünderung aus der Wollzeile gerettet hatte und die angesichts des allgemeinen Mangels an Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Salz, Zucker und Fett lächerlich wirkten wie ein Schiffsticket erster Klasse auf dem Mond. ›Wir müssen halt schauen, daß wir nicht allzuviel Pech haben‹, sagte er. Der Tod war die schlimmste Form von Pech haben. Er war abgemagert. Die Esserei langweile ihn, sagte er und hob dabei hilflos kokett die Schultern. Nichts von seiner gebieterischen, reizbaren Art war geblieben. ›Gib acht‹, sagte er, ›wenn du heute in Wien in einem Kaffeehaus eine gute Tasse heißer Schokolade kriegst, stammt sie vom Bárány!‹ Das sollte heißen: aus den geplünderten Beständen. Und damit hatte er wahrscheinlich recht. Wir hatten das größte Kakaolager Wiens besessen, und nun war fast alles weg. ›Willst du nicht in die Stadt gehen?‹ neckte er. ›Geh doch, Carl Jacob! Geh ins Mozart, trink eine Schale und beschreib mir, wie die Schokolade geschmeckt hat! Und wenn’s dort einen Kuchen gibt, einen feuchten englischen mit Ingwer und Orangeat und Zitronat, iß so einen! Und laß dir eine Rechnung geben! Das setzen wir als Werbekosten ab.‹ Um sein Geschäft hatte er sich stets mehr gesorgt als um sein Leben. Als sogenannter Vierteljude war er unter den Nazis zwar nicht zum Tragen des Judensterns gezwungen worden, aber jüdischer als er konnte man nicht aussehen, er hätte das Casting für Jud Süß spielend bestanden. Seinen Ahnenpaß, oder wie dieses Ding hieß, hatte er immer bei sich. Nur: Daß bedrucktes Papier gegen Wahnsinn und Niedertracht nichts auszurichten vermochte, dafür war die Bibliothek in seinem Rücken ein imposanter, staubfängerischer Zeuge.
    Meine Großmutter saß neben ihm auf einem Luftschutzbett, weil unser imperiales altrosa Bibliothekssofa von der sogenannten mobilen Ordnungstruppe der österreichischen Freiheitsbewegung ›Volksfront‹ beschlagnahmt worden war. Kommunisten, Sozialdemokraten und Katholiken! Zum Lachen! Arschkriecher in alle vier alliierten Richtungen! Da saß sie, das Kinn an den Hals geklemmt, um den Mund herum verschrumpelt wie eine Backpflaume, ignorierte den fröhlichen Sarkasmus ihres Mannes und sortierte Lebensmittelkarten und Bezugsscheine und verfaßte Beschwerdebriefe an die amerikanischen und die britischen Kommandanturen, weil die Offiziere in den beschlagnahmten Räumen des Hauses – Mezzanin und zweiter Stock (das Erdgeschoß hatten Plünderer völlig zerstört) – ihre Radios zu laut spielten, nicht lüfteten, nicht kehrten und nicht wischten – absurd, wenn man wußte, wie sich

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