Abendland
schönste Aufführung ihres Lebens gewesen, sagte meine Großmutter. Alle haben das gesagt. Nichts zu essen, nichts zu heizen, aber ins Theater gehen, in die Oper gehen, Konzerte anhören! Sagt dir nicht dein gesunder Hausverstand, daß das ein Blödsinn ist? Wenn ein Bedürfnis nicht auf naturgegebene Art befriedigt werden kann, sondern bloß durch Sublimierung, ist man gut beraten, sich das Sublimat genau anzusehen. Man wird feststellen, daß der Ersatz niemals nur symbolisch befriedigt, sondern immer auch recht real, daß er vielleicht nicht bis zur Sattheit befriedigt, aber auf dem Weg dorthin. Man kann gegen den Hunger rauchen, das Nikotin nimmt das Hungergefühl. Gegen das Frieren kann man Schnaps trinken, der wärmt tatsächlich. Musik und Schauspielkunst aber nehmen weder das Hungergefühl, noch wärmen sie. Sie sind nicht Ersatz für Kalbschnitzel und Zentralheizung, und sie sind auch kein Ersatz für verlorene Volksgenossenschaft, und schon gar nicht sind sie ein Trost. Sie nehmen die Langeweile . Kultur gegen Langeweile! Würde mich nicht wundern, wenn die Russen das instinktiv erfaßt hätten. Ich glaube zwar nicht, daß die Soldaten Gontscharow im Tornister hatten, aber im Kopf haben sie ihn vielleicht gehabt. In jedem Russen steckt ein Ilja Iljitsch Oblomow, sagte Ksenia Sixarulize einmal zu mir, eine Freundin aus den späten zwanziger Jahren, die war zwar Georgierin, hat aber ihr Leben lang unter Russen gelebt. Den Menschen war langweilig. Krieg und Bombardierung war eine spannende Sache gewesen. Und der Nationalsozialismus war ebenfalls eine spannende Sache gewesen. Jeder Tag ein Feiertag. Und so weit das Auge reichte, Bedeutung. Alles hatte etwas bedeutet, niemand wußte, was es bedeutete, aber jeder wußte, daß es etwas bedeutete. Bedeutung ist wie Rauschgift. Du willst sie nicht, du brauchst sie. Und du brauchst immer mehr davon. Alles hatte Bedeutung. Und eine höhere Bedeutung dazu. Bald kannst du nicht mehr anders reden als mit erhobener Stimme. Hör dir doch die Radiosendungen von damals an! Das Thema konnte gar nicht banal genug sein, gesprochen wurde darüber in einem Tonfall, als wär’s Parsifal. Auf den simpelsten Paßfotos blicken dir Propheten und Prophetinnen im Zustand der Erleuchtung entgegen. Mit dem 27. April war das vorbei. Die Häuser waren zerstört, die Männer in allen Winden, zu essen gab es nichts, kein Licht, kein Gas und – keinen Sinn des Lebens. Freiheit herrschte. Was man mit der Unfreiheit hätte anfangen sollen, das wußte jeder, man hätte sie bekämpfen sollen, man sagte, man habe sie nicht bekämpfen können, na gut. Aber was sollte man mit der Freiheit anfangen? Sie nützen. Was heißt das? Es gibt nur eines, was man mit der Freiheit anfangen kann: sie vergrößern. Aber darauf kommt man erst mit der Zeit. Jetzt war Friede. Ein sang- und klangloser Friede. Langeweile ist eine ansteckende Krankheit, die Krankheit mit der kürzest denkbaren Inkubationszeit. Ich steckte mich an. Ich habe das zerstörte Wien besichtigt, und am Ende war mir langweilig. Vielleicht war mir ein bißchen weniger langweilig als den anderen, weil die Jahre zuvor auch nicht so spannend für mich gewesen waren. Ich hatte Österreich verlassen, bevor es wirklich spannend wurde, und ich war zurückgekehrt, als es nicht mehr spannend war. Ich hatte keine Ahnung vom Krieg. Ich wußte, was ein Lager ist und daß es dort sehr unkommod sein kann, im Vergleich waren die australischen Lager eine gemütliche Sache, vor allem aber waren sie sicher, sicher vor dem Krieg. Wer würde schon auf die Idee kommen, Australien anzugreifen. Und später, in Los Alamos, war ich zwar mit Krieg beschäftigt gewesen, aber nur theoretisch. Es ist etwas Merkwürdiges: Theorie bringt uns der Praxis nicht näher; wir verstehen vielleicht einiges besser, wie es funktioniert, kausale Abläufe – als man Enrico Fermi vom ersten Atombombenversuch in Alamogordo berichtete und ihm erklärte, daß die Explosion um das Zehnfache gewaltiger war, als die Optimisten vorhergesagt hatten, und als man ihn drängte, er solle die Resolution gegen den Einsatz dieser Waffe unterschreiben, sie werde unfaßbares Elend und nie dagewesene Vernichtung bringen, da sagte er: Laßt mich mit diesen Dingen in Ruh! Es ist doch wunderschöne Physik! Der Schafzüchter in Australien, der vielleicht nicht einmal wußte, daß sein Land sich mit einem Mann namens Hitler im Kriegszustand befand, der hätte sich in seiner Phantasie den Krieg
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