Abendland
mein Vater bei Carl beschwert, Agnes habe vor lauter Valerie keine Zeit mehr für ihn. Von den Vergewaltigungen hat mir aber nicht meine Mutter erzählt, sondern Margarida. Sie meinte, es sei keine Indiskretion, schließlich kannte ich Valerie ja nicht, sie lebte schon seit vielen Jahren in Dänemark.
Carls Stimme auf dem Band: »Jeder Mensch, der in dieser Stadt lebte, war in den ersten Monaten nach dem Krieg anders, als er in seinem bisherigen Leben gewesen war, und nie wieder würde er so sein wie in dieser Zeit der Starre. Widersinnigerweise zeigte sich diese Starre in Geschäftigkeit. Die Menschen bewegten sich wie aufgezogene Mäuse. Es muß etwas getan werden! Es muß etwas getan werden! So lautete der strenge Tagesbefehl des Lebens. Und es gab ja tatsächlich mehr zu tun als je zuvor. Obwohl man nur ein einziges Mal den Blick hätte heben müssen, um zu sehen, wie vergeblich es war, etwas zu tun. Je weniger einem Menschen zu tun übrigbleibt, desto heftiger drängt es ihn zur Tat. Diese These ließ sich tagtäglich auf den Straßen verifizieren. Jeder tat irgend etwas, trug Steine in Gemüsenetzen davon oder schob einen Karren mit Gerümpel von A nach B, und wenn er zweimal hintereinander am Naschmarkt einen guten Tausch abgewickelt hatte, bildete er sich ein, er habe bereits den Grundstein für ein Geschäft gelegt. Ich bin durch die Gassen gegangen, über Schutthalden gestiegen, rostiger Eisenschrott, Staub, knöcheltief, wie Mehl. Neben einem Einstieg, der mit LSK gekennzeichnet war, lehnte eine durchweichte Matratze, zum Auslüften nehme ich an, wie die Allegorie der Hoffnungslosigkeit kam sie mir vor. Es war unerträglich. Unerträglich war die Not, aber ebenso unerträglich war es, mit anzusehen, wie Menschen Dinge taten, die völlig sinnlos waren, die weder etwas Gutes brachten noch etwas Schlimmes verhinderten und die dennoch sinnvoll waren, weil sie wenigstens so aussahen, als hätten sie Sinn. Eine elementare Wichtigtuerei hatte die Bürger dieser Stadt ergriffen. Die Diskrepanz zwischen dem, wie sie sich die Welt vorstellten, und dem, wie sich die Welt ihnen darstellte, wurde in zwei kleinen Worten aufgehoben: als ob. Als-ob und Carepakete haben das Leben in dieser Stadt erhalten. Im Rückblick mag für manchen die Gewalt wie eine Erlösung angemutet haben. Eine Erlösung auch von jeder Angst. Am hellichten Tag sah man lachende Frauen Kinderwägen schieben, die hoch mit Gestohlenem beladen waren, und das, obwohl Plünderern mit sofortigem Erschießen gedroht worden war. Plündern ist eine spannende Sache, es bringt etwas, und es ist eine spannende Sache. Man hat etwas getan, wenn man geplündert hat, und das war nicht weniger wichtig als der Gegenstand, den man davontrug. Unerträglich nämlich war es, nichts zu tun. Es muß etwas getan werden! Es muß etwas getan werden! Als ob mit der Zerstörung unserer Stadt und all der anderen Städte und Dörfer von Brest bis Stalingrad, von Guernica y Luno bis Hammerfest nicht schon genug getan worden wäre!
Am 27. April war Wien von der Roten Armee eingenommen worden, und vier Tage später bereits – vier Tage später! – wurde auf Befehl der Russen Figaros Hochzeit draußen in der Volksoper aufgeführt! Die Straßenbahnen fuhren noch nicht, die meisten Straßen waren überhaupt nicht befahrbar, die Sänger wurden auf russischen Lastwagen zum Währingergürtel transportiert. Der Eintritt war frei, ein Geschenk der Befreier. Und nicht etwa nur hartgesottene Opernfreunde wie meine Großeltern saßen im Zuschauerraum, die meisten Besucher hatten vorher noch nie eine Opernaufführung gesehen. Russische Soldaten mit Schnellfeuergewehren auf den Oberschenkeln saßen neben gerupften und ausgehungerten Wiener Bürgern, und die Sänger und Sängerinnen auf der Bühne und die Musiker im Orchestergraben sangen und spielten, was sie vor Jahren zum letztenmal gesungen und gespielt hatten, zwei Proben hatte man ihnen zugestanden, das war alles gewesen, und so klang es auch. Aber es war etwas getan worden. Und nicht nur an der Volksoper wurde gespielt, auch am Theater an der Wien – Rigoletto . Winter 1945. Ohne Dekoration. Man sah den Schnürboden und die Brandmauer. So kalt war es, daß mein Großvater und meine Großmutter in ihren Mänteln mit Decken auf den Knien und um die Schultern im Zuschauerraum saßen und sich wunderten, wie die Tänzerinnen auf der Bühne das aushielten. Die Sänger hatten Fingerhandschuhe mit abgeschnittenen Kuppen an. Es sei die
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