Abendland
die Russen in den von ihnen requirierten Unterkünften aufführten. Außerdem hatte das Haus nicht einen Kratzer durch Bomben abbekommen, irgendwelche Idioten hatten die Tympana über den beiden Hauseingängen zerschossen, das war alles. Die amerikanischen und britischen Soldaten waren höflich zu uns. Einer war dabei, ein Bodybuilder aus Philadelphia, der, wann immer es sein Dienst erlaubte, im Unterhemd herumlief, auf den Oberarmen kleine popeyehafte Tätowierungen, der klopfte manchmal an und brachte meiner Großmutter nette Dinge, einen Strauß Blumen oder eine Orange. Ihm gelang es auch, diese jämmerliche Säuerlichkeit zu vertreiben, die so ganz und gar nicht in ihr Gesicht paßte. Vielleicht erinnerte ihn meine Großmutter an seine Großmutter, wahrscheinlich war er einfach nur ein netter boy .
Ich hauste oben unter dem Dach in einem gemütlichen Verschlag, den ich mir zurechtgezimmert hatte, Platz für ein Feldbett, meine beiden Koffer, einen Tisch, einen Sessel. Da saß ich und studierte nach dem zweiten Krieg einen Brief, den mein Vater vor dem ersten geschrieben hatte. Valerie hatte ebenfalls ein eigenes Zimmerchen im Dachboden. Bei geschlossenen Türen konnten wir uns unterhalten, nämlich durch die Ritzen in der Wand – wie Pyramus und Thisbe. Unsere Familie war privilegiert. Valerie wußte das. Für den Notfall hatte ich gute Beziehungen zu den Amerikanern. Schließlich war ich immer noch selbst einer. Hätte ich darauf gepocht, ich wäre sogar bis zu General Clark vorgelassen worden. Außerdem, was weder die beiden Alten noch Valerie wußten, besaß ich eine Zigarrenkiste voll Dollars. Die steckte sicher verwahrt unter einem Bodenbrett.
Irgendwann in der Nacht erzählte mir Valerie von den Ausschreitungen im November 1938. Sie war damals vierzehn gewesen. In Paris hatte ein junger staatenloser Jude in der deutschen Gesandtschaft einen Legationsrat erschossen. Daraus baute sich das Böse eine gute Gelegenheit. Man nannte es Vergeltung. Überall im Reich wurde auf die Juden eingeschlagen, wurden die Synagogen angezündet, die Geschäfte geplündert. Wie man weiß, auch in Wien. Und mein Großvater, der sich erstens nicht zum mosaischen Glauben bekannte, der sich zu gar keinem Glauben bekannte, weil er nämlich Atheist war, und der zweitens nach den Nürnberger Gesetzen nicht hätte behelligt werden dürfen – was ein Widerspruch in sich ist, wie sollte sich jemand unter den Schutz so eines Gesetzes stellen wollen, das nur zu dem Zweck erlassen wurde, einem Teil der Bevölkerung jeden Schutz zu nehmen – wie auch immer: Er war in der Wollzeile vor sein Geschäft getreten, um zu sehen, was da für ein Lärm war, da kommt ein Bekannter gelaufen, der ruft schon von weitem: ›Herr Bárány, Herr Bárány, sie haben den Tempel in der Dollingergasse niedergerissen!‹ Und mein Großvater, wie es seine Art ist, sagt laut und deutlich, als verkünde er in seinem Geschäft, daß gerade eine neue Lieferung mit Südfrüchten eingetroffen sei: ›Das ist ein Unrecht!‹ Und er wiederholt es, als der Bekannte schon längst weitergelaufen ist. Er steht vor seinem Geschäft, die Fäuste an seine Hinterbacken gepreßt, und sagt immer wieder: ›Das ist ein Unrecht!‹ Und jetzt stell dir vor, das sagt an so einem Tag einer, der aussieht wie die Judenkarikaturen in den Stürmer -Schaukästen, die an jeder Ecke hingen und über denen als Motto stand: ›Die Juden sind unser Unglück.‹ Mein Großvater geht in Richtung Innenstadt und sagt weiter seinen Spruch vor sich hin. Da halten ihn zwei SS-Männer auf und fragen, wie er das meine. Er kommt gar nicht dazu, Antwort zu geben. Sie schlagen ihn mit dem Knauf eines Fahrtenmessers auf den Kopf, daß die Schwarte aufplatzt, und zerren ihn zum Stephansplatz, wo inzwischen schon an die hundert Männer und Frauen stehen. Jeder Passant wird nach den Papieren gefragt, ob er Jude sei oder Arier. Die Juden müssen warten, die Arier dürfen, wenn sie wollen, zuschauen und feixen. Mein Großvater ist erst gar nicht nach seinen Papieren gefragt worden. Seine Nase war Ausweis genug. Nach zwei Stunden kommen Lastwagen, und mein Großvater und die anderen, die mit ihm vor den Toren des Doms gewartet haben – inzwischen sind es an die fünfhundert –, müssen einsteigen. Eine junge Frau hat sich seiner angenommen, sie hat ihm ihr Taschentuch gegeben, die Wunde auf seinem Kopf fängt nämlich immer wieder an zu bluten. Die Wagen fahren durch die Stadt, nach einer Weile halten sie
Weitere Kostenlose Bücher