Abendland
dürfe. Er darf nicht. Mein Großvater spürt, daß die anderen ihm die Schuld geben. Nach ein paar Minuten bricht der junge Mann zusammen. Der SS-Verfügungstruppenmann sagt: ›Alle unter siebzehn und über sechzig mitkommen!‹ Bei denen ist auch mein Großvater. Sie werden zum Tor geführt. Dort sagt der SS-Verfügungstruppenmann: ›Halt! Und wenn ich gleich sage: Marsch!, dann rennt’s davon, so schnell ihr könnt’s, und wer der letzte ist, der bleibt hier. Marsch!‹ Alle rennen los, stolpern, fallen, treten aufeinander, rappeln sich hoch, halten einander zurück. Mein Großvater geht quer durch die Stadt bis zum Rudolfsplatz, legt sich in sein Bett und steht zwei Tage lang nicht auf. Dann ruft er die Familie zusammen – meine Großmutter, meine Mutter, Valerie –, bittet sie, um den Tisch Platz zu nehmen, und erzählt ihnen haarklein die ganze Geschichte. Und weißt du was: Er glaubt nach wie vor an das Gesetz. Er will Anzeige erstatten. Meine Großmutter redet auf ihn ein wie auf ein krankes Pferd. Er will Anzeige erstatten in eigener Sache und sich als Zeuge melden, falls ein anderer ebenfalls Anzeige erstatten will. Leges rem surdam, inexorabilem esse. Das Gesetz ist taub und unerbittlich, sagt Livius. Und das Gesetz ist gefeit vor jeder Politik. Das war meines Großvaters heilige Überzeugung. Anders könne ein Geschäftsmann nicht existieren. ›Wenn die Menschen soweit sind, daß sie ihrer Menschlichkeit mißtrauen, dann schalten sie etwas vom Menschen Unabhängiges zwischen sich, um miteinander verkehren zu können: das Gesetz.‹ So hat er mich belehrt, da war ich noch keine vierzehn. Meine Großmutter habe sich in sein Hemd verkrallt, um ihn davon abzuhalten, daß er zur Polizei ging und Anzeige erstattete.
Valerie hat mir die Geschichte in der Nacht erzählt, als wir in unserem Verschlag lagen, zwischen uns nur eine dünne Bretterwand mit so breiten Spalten, daß wir einen Finger hindurchstecken konnten, um uns gute Nacht zu wünschen. Ich sagte: Warum habt ihr euch nicht mit mir in Verbindung gesetzt? Die Familie hätte nach Lissabon ziehen sollen. Damals wäre das ohne weiteres möglich gewesen. Er hätte alles verloren, sagte Valerie, man hätte uns alles weggenommen. Das wollte er nicht. Aber Mama könnte noch leben, sagte ich. Sie sagte: Die Nazis haben sie nicht umgebracht. Das wart ihr mit euren Bomben.
Am Tag bekam ich Valerie selten zu Gesicht, sie war unterwegs, um zu organisieren. Ich wußte, sie schlich sich in der Nacht heimlich in die Bibliothek, holte ein Paket Kaffee hinter den Regalen hervor und tauschte es am nächsten Tag im Resselpark gegen drei Kilo Brot oder eine Gans oder einen Topf Schmalz. Als ich Anfang Dezember nach meinem Besuch in Nürnberg bei dem Prozeß gegen die großen Nazis wieder nach Wien zurückkehrte, war Großvaters Lager hinter den Büchern ausgeräumt. Aber die beiden Alten hatten keinen Hunger leiden müssen, und gefroren hatten sie auch nicht. Valerie hatte organisiert, Tag und Nacht. Sie war viel draußen gewesen. Zu viel.«
5
Eine Stille entstand. Unterbrochen von Carls Hüsteln. Und von meinem Hüsteln. Ich erinnere mich, daß ich versucht war, eine Frage zu stellen. Valerie war zweimal von russischen Soldaten vergewaltigt worden. Beide Male im November 1945. Gerade während der zehn Tage, als Carl in Nürnberg war. Sie hatte ihn gebeten zu bleiben. Nicht aus Sorge um sich selbst, sondern aus Sorge um die Großeltern. Vor allem um den Großvater, der immer seltsamer wurde. Sie fürchtete, er könnte überschnappen. Valerie hat mit ihrem Bruder nicht über die Vergewaltigung gesprochen. Er erfuhr es erst viel später. Mit Margarida hat sie darüber gesprochen. Und mit meiner Mutter. Aber auch erst nach Jahren. Sie war schwanger gewesen, über eine Seelsorgestelle der katholischen Kirche sei ihr eine Abtreibung vermittelt worden. Zum Horror also noch ein Witz dazu. Eine Zeitlang war Valerie mit meiner Mutter gut befreundet gewesen. Wie die beiden zusammengekommen waren, weiß ich nicht. Meine Mutter hat später so gut wie nie von Valerie gesprochen. Was verwunderlich ist. In der Zeit, als die beiden zusammensteckten, war meine Mutter arbeitslos. Valerie arbeitete bei einer Bank. Sie wollte sich nicht von ihren Großeltern aushalten lassen. Meine Mutter holte sie zusammen mit mir im Kinderwagen nach der Arbeit ab. Die beiden gingen stundenlang spazieren, manchmal bis ans Ende von Simmering und weiter bis zum Albernen Hafen. Irgendwann habe sich
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