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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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sollte sie noch in Frankfurt leben? Vielleicht hatte sie ja ein zweites Mal geheiratet oder ein drittes Mal oder ein viertes Mal. Ich wußte gar nichts. Ich rief noch einmal bei der Auskunft an, fragte nach einer Dagmar Lukasser, und die gab es in Frankfurt. Ich wählte die Nummer. Nach dem ersten Klingelton war sie am Apparat. Ein schrilles, waches »Ja?«. Zum erstenmal seit neunzehn Jahren hörte ich ihre Stimme. Ich sagte meinen Namen, und sie weinte.
    »Er ist bei mir«, beruhigte ich sie. »Soeben angekommen, liegt im Bett und schläft. Und ist gesund. Er kann uns nicht hören.«
    Sie weinte und sagte liebe Worte zu mir. Und erzählte – hastig, so als habe sie das alles schon oft erzählt: David hat einen Selbstmordversuch hinter sich; er war in der Klinik gewesen; war herausgekommen und verschwunden; seit sieben Tagen ist er abgängig; sie hatte die Polizei einschalten wollen, aber die Beamten erklärten sich als nicht zuständig, David ist volljährig und nicht entmündigt. Was der Grund sei, fragte ich. Der Anlaß, betonte sie, der Anlaß sei, daß ihn seine Freundin verlassen habe, mit einem anderen oder ohne einen anderen, das wisse sie nicht, er rede ja nicht darüber, jedenfalls mit ihr rede er nicht darüber, früher habe er alles mit ihr besprochen, seit kurzem nichts mehr, sie wisse nicht, was ihn verändert habe. Ob ich ihn wecken solle, fragte ich. Das wollte sie nicht.
    »Sprechen wir morgen«, sagte sie.
    Wir legten auf, und ich drückte sofort die Wiederholungstaste. »Meine Nummer«, sagte ich, »ich habe vergessen, dir meine Nummern zu geben.«
    Nachdem sie sich Handy und Festnetz notiert hatte, fragte ich: »Warum hast du meinen Namen behalten?«
    »Weil er schöner ist als meiner«, sagte sie und bedankte sich noch einmal und sagte wieder ihre lieben Worte.
    Diesmal rief sie gleich wieder an. Ich solle alles versuchen, um ihn bei mir zu halten, sagte sie.
    »Er will morgen weiter«, sagte ich.
    »Er will nicht weiter!«
    »Er hat es gesagt.«
    »Nein, er will nicht! Kannst du dir nicht vorstellen, daß er nicht will? Er hat dich gesucht, und jetzt hat er dich gefunden. Er will nicht weg.«
    »Ich weiß nicht, ob er mich gesucht hat. Aber er hat gesagt, er will morgen wieder weiter.«
    »Um Gottes willen!« rief sie. »Das darf er nicht! Halte ihn fest!«
    »Wie soll ich das fertigbringen, Dagmar?«
    »Das weiß ich nicht! Bitte, halte ihn fest! Wenn er wieder verlorengeht, finde ich ihn nicht mehr! Versprichst du mir, daß du ihn festhältst?«
    »Ich werde mir etwas überlegen«, sagte ich.
    »Versprich mir, daß du ihn nicht weggehen läßt!«
    »Ich verspreche es«, sagte ich.
    Eine Zeitlang sagten wir nichts. Ich warf einen Blick durchs Fenster. Die Uhr auf der Markthalle zeigte kurz nach zwei.
    »An was denkst du?« fragte sie.
    »Ich denke an meinen Vater.«
    »Ja, das habe ich befürchtet, daß du an deinen Vater denkst«, sagte sie. »Aber David ist anders als dein Vater.«
    »Du hast meinen Vater nicht gekannt.«
    »Aber du hast mir viel von ihm erzählt. David ist kein Genie, und niemand hält ihn für ein solches. David ist anders als du, anders als ich, anders als dein Vater, er ist anders als alle.«
    »Wie ist er denn?«
    »Weich.«
    »Mein Vater war auch weich.«
    »Was verstehst du unter weich?«
    »Was verstehst du unter weich?«
    »Reden wir morgen weiter«, brach sie ab.
    »Ruf mich an, wenn dir danach ist«, sagte ich. »Ich habe das Handy immer in Reichweite. Und wenn es gerade nicht günstig ist, tu ich so, als ob ich mit jemand anderem rede. Erschrick also nicht über meinen Ton.«
    »Was heißt nicht günstig?«
    »Wenn er neben mir steht.«
    »Das ist doch kindisch! Er ist ja nicht dumm, er wird wissen, daß du mich angerufen hast.«
    »Das schon. Aber soll er auch mitkriegen, wenn wir miteinander telefonieren? Soll er daneben stehen und halb zuhören?«
    »Nein, das soll er nicht.«
    »Also, wie halten wir es, wenn du anrufst und er neben mir steht? Soll ich ihn dir geben?«
    »Nein. Wir machen es so, wie du gesagt hast. Entschuldige.«
    Wir legten auf. Ich spürte ein Flattern in meiner Brust und dachte an Dr. Strelka, der seine Patienten um die postoperative Euphorie beneidete. Die kommt jetzt, dachte ich.
    Ich schlich mich ins Arbeitszimmer hinauf. David lag zusammengerollt auf dem Sofa, die Füße, schwarz wie Othellos Füße, schauten unter der Decke hervor. Das Gesicht war friedlich. Die makellose Haut ließ ihn jünger erscheinen, Erbe der Mutter. Die

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