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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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starken Augenbrauen hatte er von seinem Großvater väterlicherseits, von dem er wahrscheinlich nichts oder nur wenig wußte. An den Schläfen glaubte ich, Verwandtes mit seiner Großmutter väterlicherseits zu erkennen, auch von ihr würde ich ihm vielleicht erzählen, vorausgesetzt, es gelänge mir, ihn ein paar Tage bei mir zu halten, und natürlich vorausgesetzt, er interessierte sich für den väterlichen Teil der Familie überhaupt. Über was für andere Möglichkeiten verfügte ich, ihn bei mir zu halten, als über die der Scheherazade?
    Ich war zu aufgewühlt, um zu schlafen. Ich stieg wieder in die Bibliothek hinunter, öffnete die Schnüre an seinem Rucksack: Eine Straßenkarte von Deutschland, eine von Frankreich, ein Notizbuch, das mit einem Gummiband umschlungen war, an dem einige Haare hingen, eine Schachtel Camel mit drei Zigaretten darin, ein gelbes Plastikfeuerzeug, ein Nokia-Handy, aber kein Ladegerät, ein sorgfältig in Zeitungspapier eingebundenes Buch über Comics – ich blätterte darin, konnte mich aber nicht darauf konzentrieren –, der Standard von gestern – also war er schon wenigstens zwei Tage in Österreich –, eine mit buntem Isolierband reparierte Geldbörse – Inhalt: 15 Euro und Münzen, ein Personalausweis, eine in Plastik verschweißte Mitgliedskarte eines Schachvereins und ein Steckschach, so groß wie eine CD-Hülle. Keine Wäsche war im Rucksack und auch kein Waschzeug.
    Ich nahm mir eine Camel und rief Robert Lenobel an. Ich ließ es so lange klingeln, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete. Ich wählte noch einmal. Er meldete sich, aus dem Schlaf gerissen, ich erklärte ihm die Situation. Bis ich damit fertig war, war er wach.
    »Wo schläft er?« fragte er.
    »Oben im Arbeitszimmer.«
    »Heute geht das«, sagte er. »Morgen soll er irgendwo anders schlafen, nicht ausgerechnet oben, wo er jederzeit aufs Dach hinausgehen und in den Innenhof springen kann.«
    Ich sagte, ich sei nicht aufgelegt für solche Späße. Er sagte, das seien keine Späße.
    »Ich weiß nicht, ob er morgen noch hier ist«, sagte ich.
    »Du mußt ihn halten«, sagte er.
    »Kannst du ihn dir anschauen?« fragte ich.
    »Du kannst ihn jederzeit zu mir bringen«, sagte er. »Aber das geht nur, wenn er es will, das ist dir doch klar.«
    »Ich kann mit ihm morgen ins Sperl kommen«, sagte ich, »und du kommst auch, und wir tun, als ob es zufällig wäre, und du schaust ihn dir an.«
    »Gut«, sagte er, »ruf mich an, wenn er aufgewacht ist.«
    Eine Weile blieb ich auf dem Fauteuil in der Bibliothek sitzen. Vor drei Jahren hatte ich mir das Rauchen abgewöhnt, immer habe ich der Versuchung widerstanden, Evelyn die Zigarette anzuzünden. Ich hatte auch jetzt keine Lust zu rauchen. Es entsprach dem klassischen Klischee, in so einer Situation rückfällig zu werden. Ich wünschte mir, daß alles gut ausging. Vielleicht sind die guten Ausgänge standardisiert, und was wir Klischee nennen, ist in Wahrheit ein höheren Orts ausgetüftelter Ablauf, der absichtlich simpel ist, damit auch die Dümmsten mit ihm zurechtkommen. Ich ging in die Küche und rauchte Davids Camel zum Fenster hinaus.
4
    Dagmar und ich: Wir haben uns von Anfang an gestritten, und wir haben immer gestritten. Und immer gleich – Thema und Improvisation, wie Jazz. Nur zweieinhalb Jahre waren wir zusammen gewesen, von Herbst 1977 bis Mai 1980; diese Beziehung wurde für mich zum Modell für all die fehlgeschlagenen Beziehungen, die folgten. Als ob jeder Fehler, den ich beging, in der Zeit mit Dagmar prototypisch vorgeprägt worden wäre. Jedes Scheitern habe ich diesem ersten Scheitern angelastet.
    Ich wohnte in Frankfurt in der Danneckerstraße, das ist über dem Main in Sachsenhausen, in einer Wohnung mit einem sehr ausgefallenen Grundriß. Der Eigentümer hatte eine Wand eingezogen, eine zweite Wohnungstür eingesetzt und so aus einer zwei Wohnungen gemacht; ich hatte den Teil mit der Küche, mein Nachbar den Teil mit dem Bad. Mein Arbeitszimmer und mein Schlafzimmer (ebenfalls mittels einer Mauer aus einem zwei gemacht) waren lichtarm und schmal; die Küche aber hatte großzügige Maße, sie war asymmetrisch geschnitten und durch zwei Stufen, die sich über ihre Diagonale zogen, in zwei Bereiche geteilt. Das wirkte sehr extravagant. Ich saß gern einfach nur auf einem Sessel und schaute mir meine Küche an. Im vorderen Teil prunkte ein amerikanischer Kühlschrank, türkis und wuchtig wie ein aufrecht geparkter Omnibus, hinten bei der

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