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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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»eine furchtbare Geschichte, aber eigentlich auch eine komische Geschichte. Mehr komisch als furchtbar. Laß mir noch ein Stück Zeit, Sebastian. Ich werde sie dir erzählen, wenn ich erst genug anderes erzählt habe, so daß das eine das andere aufwiegen kann und kein Übergewicht entsteht.«
    Er arbeitete zwar weiter an der Universität, habilitierte sich am Physikalischen Institut mit einer Arbeit über die Riemannsche Vermutung (Nullstellen in der Zeta-Landschaft), ein Thema, an das sich nur die Besten wagten; ein Jahr lang hielt er als Privatdozent am selben Institut Vorlesungen und Seminare ab; eine Professur wurde ihm in Aussicht gestellt – eine brillante Vergangenheit, eine brillante Zukunft; aber zufrieden war er nicht. Er wollte Österreich verlassen, aber sicher nicht nach Deutschland zurückkehren. Sein Großvater schlug ihm vor, sich in Lissabon bei der Handelsgesellschaft, an der er beteiligt war, umzusehen; vielleicht habe er ja Interesse, einen Handelsvertreter auf einem Schiff nach Deutsch-Südwestafrika oder nach Macau oder nach Ägypten oder gar nach Brasilien zu begleiten.
    Ja. Warum sollte er es nicht wenigstens versuchen? Er meldete sich von der Universität ab und fuhr in der Welt herum – Lissabon, Kairo, Hongkong, Istanbul, Panama. Schließlich in die Vereinigten Staaten von Amerika. In New York baute er aus eigener Initiative eine Geschäftsbeziehung zu einem Whiskeyexporteur auf, was für Bárány in der Folge, vor allem in Deutschland, ein gutes Geschäft wurde; dort herrschte nämlich eine Zwanziger-Jahre-Nostalgie, und ein ungebändigter Bourbon, der gerade erst aus der Prohibition entlassen worden war, wurde den saturierten schottischen Whiskys vorgezogen – wahrscheinlich weil er die Kunden an ihre eigenen wilden Jahre erinnerte, die zwar kaum einer wiederhaben wollte, in denen man aber immerhin jung gewesen war.
    Eines Morgens saß Carl in der Oak Bar des Plaza Hotels in New York und frühstückte, da trat ein Mann an seinen Tisch und sprach ihn auf deutsch an. Er kenne ihn aus Göttingen, sagte er. Er, Dr. Candoris, habe doch bei Frau Professor Noether dissertiert und sei ihr Assistent gewesen; er habe sie doch Ende der zwanziger Jahre nach Moskau begleitet. Frau Professor Noether habe ihm ausführlich von dieser Zeit berichtet, es müsse sehr aufregend gewesen sein. »Ja, das war es«, sagte Carl und fragte: »Und wir beide, Sie und ich, wir kennen uns tatsächlich?« »Aber freilich«, strahlte der Mann. Er stellte sich nicht vor. Weil er so sicher war, daß ihn Carl kannte? Er hatte ein flaches Gesicht von ungesunder Farbe wie Magermilch und auseinanderstehende runde Schneidezähne. So ein Gesicht würde man sich merken, wenn es in einer vorbeiziehenden Menge aufschiene. Aber Carl erinnerte sich nicht. Frau Professor Noether lebe nicht weit von New York, fuhr der Mann fort. Davon wußte Carl nichts. Ob er, Dr. Candoris, sie sehen wolle. – Später meinte sich Carl zu erinnern, daß in diesem Augenblick eine Warnleuchte in seinem Kopf geblinkt habe, zu schwach wohl. In einer tieferen Schicht sei ein Gedanke aufgekommen, aber gleich wieder eingegangen: Der ist ein Lockvogel, man will mich reinlegen. Andererseits: Wenn seine ehemalige Professorin in Amerika war, dann ging es ihr mit größter Wahrscheinlichkeit nicht gut. Und dieser Mann hier würde ihr melden: Ich habe es ihm gesagt, aber er will nicht. Was würde sie denken? – »Das würde ich wirklich sehr gern«, antwortete Carl. Es treffe sich gut, sagte der Mann, in ein paar Tagen werde bei Freunden in New Jersey eine kleine Feier zu Ehren von Frau Professor Noether veranstaltet. Er werde das Nötige veranlassen. – Am selben Abend bereits lag ein Brief für Carl bei der Rezeption des Plaza. Darin wurde ihm mitgeteilt, eine junge Journalistin werde ihn an dem betreffenden Tag in der Bar des Hotels abholen und gemeinsam mit ihm nach New Jersey fahren.
    Das Zusammentreffen mit seiner ehemaligen Professorin verwirrte ihn. Sie war eine gebrochene Frau, aber sie hielt noch ihre Scherben zusammen. Was sie erzählte, führte ihm, der sich gerade anschickte, das Leben leichtzunehmen, deutlich vor Augen, wie schwer das Leben in Deutschland inzwischen geworden war. »Daß nämlich die Witzfiguren, über die meine Freunde und ich in Göttingen und später in Wien trotz ihres brachialen Auftretens immer nur gelacht hatten, offenbar sehr erfolgreich darangingen, ihre wahnsinnigen Ideen umzusetzen.« Frau Dr. Noether, Jüdin und

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