Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
Idee leben, sondern die Früchte derer genießen, die für eine Idee gelebt hatten. Was für ein köstlicher Unterschied! Ich wollte Geld verdienen, so viel Geld, daß ich mir alles leisten konnte, was mich begeisterte. Auf jeden Fall genug, um den Idioten dieser Welt jederzeit aus dem Weg gehen zu können. Ich, Professor an einer österreichischen oder gar einer deutschen Universität? Nein, nein! Man soll sich mit dem Staat nicht einlassen, mit keinem Staat, man soll keinen Beruf ergreifen, der einen in die Situation bringt, sich von irgendwelchen brutalen Dummköpfen etwas vorschreiben zu lassen, die einen davonjagen oder erschlagen, wenn man ihrem hanebüchenen Blödsinn nicht applaudiert. Ich wollte keine Schmerzen haben. Es war damals ein bißchen modisch, Schmerzen zu haben. Die Lady auf der Bühne hatte Schmerzen. Sie zeigte nicht Schmerzen, sie hatte Schmerzen. Und ihre Schmerzen haben mich von meinem Ehrgeiz und von meinem Trübsinn und meiner Langeweile erlöst. Genauso war es. Wenn ich an ihre Stimme denke, kommt mir vor, als wären alle ihre Songs langsame Songs. Was ja nicht stimmt. Zum Beispiel Them There Eyes ist ein swingendes Stück, flott, fröhlich, das hüpft so dahin. Aber kaum ist das Stück zu Ende, denke ich, es war ein langsames Stück. Das ist doch merkwürdig. Ich kann mir den Schmerz nur als etwas Langsames vorstellen. Them There Eyes hat sie an diesem Abend gesungen und If the Moon Turns Green und The Man I Love . Wenn ich eine CD von ihr höre, singe ich mit, heute noch. Ich kenne den Ton, den sie erreichen will, ich höre, wie schmerzvoll es für sie ist, diesen Ton zu erreichen, und auch wenn ich eine Nummer schon hundert Mal gehört habe, bange ich jedesmal wie um das Leben des Akrobaten auf dem Hochseil. Aber ich bin es nicht, der balanciert, verstehst du. Ich bange nur. Ich bange mit Begeisterung. Ich besitze eine Aufnahme von Them There Eyes , allerdings aus dem Jahr 1939, mit Charlie Shavers, den ich für den vollkommenen Trompeter des Swing halte, er hat ja auch getanzt, und das merkt man, er kann die Trompete spielen wie eine Piccoloflöte. Hör dir an, wenn er sie mit dem Dämpfer spielt. Wenn Frau Mungenast gegangen ist, werden wir es uns bequem machen, ich hätte gern, wenn du dir ein paar Bratäpfel ins Rohr schiebst, du brauchst sie ja nicht zu essen, wenn du nicht willst, nur damit wir sie riechen, obwohl dieser Geruch eher an das Ende eines Jahres paßt als an den Anfang, und anschließend hören wir uns ein paar Nummern von der leidenden Lady an und hören uns an, wie der Föhn vom Patscherkofel herunterdonnert, und hören uns Them There Eyes mit Charlie Shavers an. Und übrigens, was das Tremolo betrifft, das dein Vater von ihr abgeschaut hat: den Ton geradestehen lassen, ihn einfach vorzeigen, wie er ist, das halten nicht viele aus, weil man sich dabei blamieren kann, und erst sehr spät, sehr, sehr spät in die Wellenlinie übergehen, den Ton flattern lassen wie ein kleiner Vogel seine Flügel und ihn schließlich in einem Haken enden lassen. Dein Vater hat seine Soli immer weit oben auf dem Griffbrett gespielt, damit er den letzten Ton über die volle Länge des Griffbretts herunterschleifen konnte, das hat geklungen, wie wenn eine Katze faucht und zuschlägt. Billie Holiday aber formte aus dem Ende des Tremolos den Schnabel eines Raubvogels.«
    Von nun an verbrachte Carl die Nächte in Harlem in den Clubs, die Small’s Paradise, Pod’s and Jerry’s Log Cabin, The Alhambra Grill oder Hot-Cha hießen und wo man überall Musiker hören konnte, die ein paar Jahre später Weltstars waren – Earl Hines, Lionel Hampton, Benny Goodman oder Coleman Hawkins. Er wurde süchtig nach Jazz. An den Tagen durchstöberte er die Geschäfte in der 52. und in der 44. Straße nach Platten und verbrachte Stunden im Commodore Music Shop, dessen Besitzer, Milton Gabler (ich erwähne seinen Namen, weil ihn Carl in den späten fünfziger Jahren nach Wien einlud, was bei meinem Vater, wie erwartet, einen Eifersuchtsanfall auslöste) gerade damit beschäftigt war, alte Jazznummern neu herauszugeben. Carl wohnte nicht mehr im Plaza beim Central Park, sondern bei Abraham Fields, schlief auf dessen Küchensofa oder schlief bei anderen Freunden. Er gab eine Menge Geld aus für feine Anzüge, feine Schuhe, feines Essen und eben stapelweise Schallplatten. Um den Whiskeyhandel kümmerte er sich wenig, das Geschäft lief ohne ihn. Er hatte es eingefädelt, Fleiß und Schweiß überließ er den

Weitere Kostenlose Bücher