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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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linke Sozialdemokratin, hatte bereits 1933 Deutschland verlassen, sie lehrte als Gastprofessorin am Bryn Mawr College in Pennsylvania und forschte zusammen mit einigen ihrer jüdischen Kollegen aus Göttingen und anderen deutschen Universitäten in Princeton am Institute for Advanced Study.
    Dieses Treffen war in mehrerer Hinsicht bemerkenswert, wenn man Carls weiteres Leben betrachtet. Vor allem aber lernte er bei dieser Gelegenheit Abraham Fields kennen; und wenn er auch mit dem einen oder anderen Gast dieses Abends in den weiteren Jahren intensiver zu tun hatte als mit ihm – Abe wurde sein Freund, und er blieb es bis zum Ende. Mr. Fields war damals vierundzwanzig, studierte Psychologie, lebte in New York und war – Jazzfan. Mit ihm zusammen streifte Carl in den folgenden Monaten durch Manhattan, von den Clubs entlang des Hudson ab der 42. Straße aufwärts bis zu den Tanzpalästen oben in Harlem. Abe, der Ekstatiker, weckte in Carl die so lange vermißte Begeisterung – aber es war nicht mehr die, die sich an den eigenen Möglichkeiten berauschte, sondern die Begeisterung des Sammlers, des Zuhörers, des Betrachters, des Lesers, des Genießers; Begeisterung nicht in der Tätigkeitsform, sondern in der Leidensform.
    »Eines Abends«, erzählte Carl – da standen wir immer noch vor Margaridas Grab, und der Föhn ließ uns beide ein bißchen Glück atmen – »bin ich zusammen mit Abe und jener jungen Journalistin hinauf zur 125. Straße gefahren, in ihrem Wagen, ein schöner Wagen, sehr gut geeignet zum Angeben, denn wenn man in diese Gegend kam und nichts zum Angeben hatte, war man nichts. Abe hatte zwei Karten, und die Journalistin, eine lästige Person, hoffte, sie werde an der Abendkasse noch eine bekommen. Chancenlos. Eine Karte hatte im Vorverkauf nicht mehr als 50 Cent gekostet, und auf der Straße vor dem Club wurden 50 Dollar dafür geboten, aber auch für 100 Dollar hätte einer seine Karte nicht hergegeben. Es war im April 1935, Freitag, der 19. April 1935. So ein Datum vergißt man nicht: Im Apollo Theatre trat Billie Holiday auf. Dieser Abend krempelte alle Vorstellungen um, die ich mir von Musik gemacht hatte. Ich hatte Brahms geliebt? Nach diesem Abend bedeutete er mir nichts mehr. Ich hatte Bach angebetet? Von diesem Abend an lösten die Goldberg-Variationen in mir nur noch Nervosität aus. Beethoven hatte mich innerlich erhoben? Von nun an fand ich ihn aufgeblasen und falsch. Nicht einmal meinen geliebten Schubert ließ ich noch gelten. Sie alle, schien mir, erzählten Ideologie. Weißt du, was ich damit meine? Sie erzählten mir mit ihrer Musik, wie sich Gott den Menschen vorstellt oder wie sich der Teufel den Menschen vorstellt. Oder wie sich der Mensch den Menschen vorstellt. Aber sie erzählten mir nicht, wie der Mensch ist. Sie führten mir nicht den Menschen vor, sondern Ideale, Ideen, Dämonen. Es war Musik von Göttern für Götter oder von Übermenschen für Übermenschen oder von Marsianern für Marsianer. Aber die Lady … – Ich hatte keine Ahnung gehabt, was auf mich zukommt. Abe wollte mich überraschen. Die Journalistin wußte hingegen genau, was geboten wurde, und sie erwartete, daß einer von uns beiden ihr seine Karte überließ. Abe schaute einfach nur geradeaus, reihte sich in die Menschenschlange vor dem Eingang ein und ließ sich den Regen in den Kragen rinnen. Ich habe zu ihm gesagt: ›Abe, tut mir leid, es war sehr freundlich von dir, daß du eine Karte für mich besorgt hast, aber ich glaube, ich muß …‹ Weiter bin ich nicht gekommen. Er trat mir mit dem Absatz auf den Fuß. ›Sei einfach still und stell dich hinter mich‹, zischte er. Und ich flüsterte zurück: ›Abe, ich möchte mich nicht unhöflich gegenüber der Dame benehmen.‹ Und er sagte so laut, daß es die Dame hören konnte: ›Du wirst diesen Abend dein Leben lang nicht vergessen. Das ist es wert, einmal kein Gentleman gewesen zu sein.‹ Die Journalistin hat sich auf ihren Absätzen umgedreht und ist davon ohne ein Wort. Und Abe und ich haben uns Billie Holiday angehört. Und das war es weiß Gott wert, einmal kein Gentleman gewesen zu sein, und ich bin Abe dankbar, daß er den grausamen Part, die Dame zu vertreiben, übernommen hat. Zweitausend Menschen waren in dem Saal. Die eine Hälfte hat Tabak geraucht, die andere Hälfte Marihuana. Ich hätte die Luft anhalten müssen, um nicht high zu werden. Duke Ellington dirigierte vom Klavier aus sein Orchester, und Billie Holiday sang. Die beiden

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