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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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meines Vaters. Meinen Vater würde ich vermissen, Daniel würde ich nicht vermissen. Und Portugal schon gar nicht. Ich hob meine Ersparnisse ab. Aber der Mut verließ mich. Als ich das Geld in der Hand hielt, das ich gespart hatte, verließ mich der Mut. Ich zahlte es am nächsten Tag wieder ein. Geniert habe ich mich. Der gleiche junge Mann, der mir das Geld am Vortag gegeben hatte, nahm es nun wieder in Empfang. Wenn er mich ausgelacht hätte, wäre es nicht so schlimm für mich gewesen. Aber er tat so, als wundere er sich nicht einmal. Ich absolvierte brav mein Studium. Die Prüfungen legte ich in Coimbra ab. Meinem Vater zuliebe. Ich war die erste diplomierte Wirtschaftswissenschaftlerin meiner Heimatstadt.«
    Das war im Frühling 1938. Bei einem der regelmäßigen Treffen von Professoren, Studenten und anderen interessanten Leuten im Haus ihres Vaters lernte Margarida Carl kennen.
6
    »Lauter Dinge, die ich weder geplant noch gewollt, noch nicht gewollt hatte, standen im Weg herum, und ich eckte an, und so ist es eben passiert, daß mich der Lebenswind nach Lissabon in die Arme meiner lieben Margarida getragen hat«, sagte Carl und schmunzelte dabei, und ich sah ihm an, daß er diesen Satz mehr oder weniger im Wortlaut vorbereitet hatte und das Schmunzeln als Begleitung dazu.
    Er bat mich, einen Schneeball zu formen und ihn in seine Hand zu legen, und als ich Schnee vom Fuß der Mauer nehmen wollte, weil dort am meisten lag, rief er: »Nein, nein, ich will Schnee von ihrem Grab!«
    Ich drückte eine große Kugel zurecht, er zog die Handschuhe aus und rollte den Schneeball von einer Hand in die andere.
    »Ist es viel verlangt, den Schnee von ihrem Grab zu entfernen?« fragte er. »Jedenfalls die größeren Schollen. Schnee muß jetzt nicht mehr sein, was meinst du? Hinter der Kirche ist ein Brunnen, dort stehen Schaufeln und Besen.«
    Ich wischte den Rest des Schnees mit den Händen weg. Danach waren meine Hände rot, und sie glühten. Der Schneeball in Carls Händen war nicht kleiner geworden. Er warf ihn hinter sich und sagte: »Vielleicht hat ja alles seine Dramaturgie, nur durchschaue ich sie nicht immer. Das wird deine Aufgabe sein. Darum habe ich mir einen Dichter gerufen.«
    Carl hatte in Göttingen studiert und war anschließend nach Wien zurückgekehrt. Sein Großvater und seine Großmutter, auch seine Mutter meinten, er habe sich verändert. Stark verändert. Er sei abwesend und abweisend. Bisweilen reagierte er auf kleinste Fragen aufbrausend. Er beteiligte sich nicht. Setzte sich nicht einmal zum Tee zu ihnen. Tagelang redete er kein Wort. Seine Mutter zog sich ängstlich vor ihm zurück, kam nur noch sehr selten zum Rudolfsplatz, und er besuchte sie nicht in ihrer Wohnung. Seine Großmutter drang in ihn, versuchte ihn auszufragen und wohl auch auszuspionieren, sie wühlte in seinen Sachen, ob sich etwas finden ließe, was Auskunft geben könnte über den unerklärlichen Gemütswechsel ihres unerklärlichen Enkels. Seelenkunde war Mode. Sogar schon wieder etwas aus der Mode. Es hatte die Großmutter immer interessiert, was ein Mann wie Sigmund Freud aus Menschen herauszuquetschen vermochte, wenn sie erst auf seiner Couch lagen. Sie hatte lange mit dem Gedanken gespielt, sich selbst einer Analyse zu unterziehen, sich aber doch nicht getraut.
    »Sie nahm mich eines Morgens nach dem Frühstück beiseite und schlug mir vor, einen Psychoanalytiker aufzusuchen«, kicherte Carl. »Ich sagte zu ihr: ›Das tu ich gern, Großmama. Ich kann mich gleich heute erkundigen. Aber eines weißt du schon: Der Patient darf mit niemandem darüber sprechen, sonst verpufft der Zauber.‹ Man konnte ihr förmlich ansehen, wie das Interesse aus ihr herausrann. Als hätte man unter ihrem Kinn einen Hahn aufgedreht.«
    Der Großvater glaubte, den Grund für die »Laune« zu kennen: Langeweile. Carl habe mit Bravour ein Studium absolviert, das eigentlich zu nichts nütze sei, und hadere nun mit sich, weil er eingesehen habe, daß ein Mann seine Kraft im Umgang mit wirklichen Dingen verausgaben sollte. Er war überzeugt, über kurz oder lang werde Carl ins Geschäft einsteigen; er wollte ihn nicht drängen, sparte aber auch nicht mit Andeutungen und Vorschlägen.
    Tatsächlich hatte Carl das Interesse an der Mathematik verloren. Aber nicht nur das: Er hatte das Interesse an allem verloren. Er hatte seine Begeisterung verloren, wie der Peter Schlemihl seinen Schatten verloren hatte.
    »Das hatte seine Geschichte«, sagte er,

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