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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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wirkten zu dieser Zeit gemeinsam in einem Film für die Paramount Studios draußen in Long Island mit. Mir war nicht im entferntesten klar, was für eine Sensation es war, sie gemeinsam auf einer Bühne zu sehen. Duke Ellington kannte ich natürlich, von Billie Holiday hatte ich noch nie etwas gehört, sie stand ja erst am Beginn ihrer Karriere. Sie trat auf die Bühne, und die Scheinwerfer wurden grün. So ein langsamer Gesang! Sie schleppte sich hinter dem Beat her, jede Betonung verzögerte sie, wurde sogar immer langsamer dabei, geriet für mein im Jazz ungeschultes Gehör völlig aus dem Rhythmus, und erst wenn sie den letzten Ton einer Phrase sang, den sie lange ohne jede Modulation aushielt, bevor sie ihn in Schwingungen versetzte, erst dann fing sie den Schlag auf und war wieder im Rhythmus angekommen. Mit ihrem letzten Atem holte sie sich den Takt zurück. Jedesmal ein Sieg gegen die Verzweiflung, die ja bekanntlich eine Hydra ist. – Und weg war mein Trübsinn! Weg meine Langeweile! Hier wurde mir ein neues Elixier angeboten: Jazz. Und ich mußte nichts dafür geben. Ich hatte nicht mehr den Drang, etwas geben zu müssen. Auch nicht mehr den Drang, etwas sein zu müssen. Nehmen! Nehmen! Nehmen! Der Jazz brachte die Leute um, er war gefährlich, er war ein Abenteuer. Als Lester Young am Ende ins Krankenhaus gebracht wurde, faßten die Ärzte seinen Zustand in ein Wort: Jazz. Wer Jazz sagte, meinte auch Marihuana, Alkohol, Barbiturate, Heroin, Kokain. Und dieses Zeug war ja auch gut. Jedenfalls das Kokain. Der Jazz war das Blut, das Odysseus vor der Pforte zum Hades ausgießt, damit sich die grauen Seelen etwas frische Farbe ansaufen. So eine graue Seele war ich. Ich hatte das dringende Gefühl, falsch gelebt zu haben. Dringend und drängend. Drängend, weil ich dieses falsche Leben so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte. Jazz war der andere Weg. Der Genius hat sich auf meiner Bank nicht niedergelassen, er hat sich’s vielleicht überlegt, aber er ist schließlich doch weitergezogen – oder -geflogen, ich weiß ja nicht, welche Art der Fortbewegung der Genius vorzieht. Nun war ich neunundzwanzig, und es gab für mich nicht mehr viel zu hoffen. Eines wurde mir klar, während vorne auf der Bühne ein Mensch mit Gesang vorführte, wie der Mensch ist, – nicht, wie sich ihn irgend jemand vorstellt – nicht, wie er sein soll , und auch nicht, wie er nicht sein soll –, sondern: Wie er ist . Nämlich dieses wurde mir klar: Meine Träume sind abgelaufen. Die Zeit nach dem dreißigsten Lebensjahr verbringt der Mathematiker damit zu beweisen, was ihm davor zugefallen ist. Mir war nichts zugefallen. Ich hatte versucht, die Riemannsche Vermutung zu beweisen, und das ist mir nicht gelungen. Gut, das ist auch keinem anderen gelungen, bis heute nicht. Kann sich einer eine Million Dollar damit verdienen. Kriegt er den Abel-Preis. Ich gönn’s ihm. Ich glaube allerdings nicht, daß einer das herbringt. Was für eine edle Gelbrübe vor der Nase so vieler Esel! Sollte es tatsächlich eines Tages jemandem gelingen, etwas Triftiges über das Auftreten der Primzahlen auf dem Zahlenstrahl vorzulegen, wird er den Beweis unter anderem auch auf meine Arbeiten aufgebaut haben – vielleicht aber auch nicht. Und wenn schon! Wird aus der Riemannschen Vermutung eben das Riemannsche Theorem. Aber wo bleibt der Name dessen, der bewiesen hat? Mir wäre lieber gewesen, ich hätte eine Candorissche Vermutung aufgestellt als die Riemannsche oder die Goldbachsche Vermutung bewiesen. Und ich habe nie einen Mathematiker getroffen, dem es nicht ebenso ergangen wäre. Der Beweis wird aus Schweiß und Fleiß zusammengeknetet. Daran war mir nie gelegen. Das Genie reißt eine Vermutung auf! Und anschließend kommen die Ameisen. Mittelmaß ist nicht einfach nur ein bißchen weniger, es ist gar nichts – in der Mathematik nichts, in der Musik nichts, in allen Künsten nichts. Im Geschäftsleben dagegen spielen solche Überlegungen keine Rolle. Geld ist Quantität, ist immer nur Quantität, ist sogar der Inbegriff von Quantität. Ist nie Qualität. Ein bißchen weniger ist auch etwas. Geld läßt sich zählen. Genie nicht. Hätte ich mir wie der Baron Napier einen schwarzen Mantel überziehen und einen schwarzen Hahn auf die Schulter setzen und Logarithmen murmelnd durch mein schottisches Schloß schlurfen sollen, abgesehen davon, daß ich kein schottisches Schloß besaß? Ich, ein Kauz? Nein, sicher nicht! Ich wollte nicht für eine

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